Wieduwilts Woche

Wieduwilts Woche Ein Jahr danach: Wofür wir kämpfen

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Vor der russischen Botschaft in Berlin steht seit heute ein russischer Panzer, der in der Nähe von Kiew zerstört wurde.

(Foto: IMAGO/A. Friedrichs)

Seit einem Jahr tobt der Krieg. Die Ukraine kämpft gegen den Aggressor mit der Unterstützung des Westens. Doch das wichtigste Ziel in diesem Krieg geht in Deutschland etwas unter.

Vor einem Jahr hat Russland seinen Überfall auf die Ukraine begonnen. Seither mussten wir einiges dazulernen. Wir wissen inzwischen viel über Waffen, etwa wie viele Rohre ein Gepard hat (zwei), dass es nicht nur zwei Leoparden gibt, sondern recht viele, und wer sich besonders reinhängt, weiß vielleicht sogar, warum die Kanonenrohre "glatt" sind und nicht "gezogen" (moderne Panzermunition soll nicht rotieren und schneller fliegen).

Manches wiederum schien ein wenig aus dem Blick zu geraten. Die Ukrainer kämpfen gegen die Angreifer und ums Überleben, schon klar - aber kämpfen sie auch für etwas? Die NATO-Mitgliedschaft? Den EU-Beitritt? Nein, deutlich größer: Sie kämpfen für die Demokratie.

Wir hören das in Deutschland erstaunlich selten - am lautesten sprechen es die Amerikaner aus, wenn sie uns besuchen. Der US-Präsident Joe Biden warb in Warschau nicht nur für die "Freiheit" und "Souveränität" - er warb für Demokratie.

Renaissance der Demokratie

Und was für eine stille Renaissance die Demokratie gerade erlebt! Dieses System fußt auf dem demütigen Eingeständnis der eigenen Fehlbarkeit - und führt durch Streiten zum besten Ergebnis. Dass Autokratien womöglich schneller handeln, aber nicht besser, zeigt die jüngere Geschichte.

China hat das Volk mit freier und eiserner Hand durch die Pandemie dirigiert, bis es nicht mehr ging - jetzt steuert die Volksrepublik auf 1,5 Millionen Corona-Tote zu. Wie erbittert haben wir in Deutschland um Maßnahmen und das richtige Verhalten gerungen! Es gehört zu den Begleitgeräuschen der Demokratie, dass ihre Feinde nun in der Rückschau jeden Irrtum als Volksverrat geißeln. Besser gelungen ist es uns unterm Strich dennoch.

Der Krieg in der Ukraine ist das zweite große Beispiel. Viele Beobachter hatten zu Beginn damit gerechnet, Russland werde die Ukraine in kurzer Zeit einnehmen. Es war vermutlich eine demokratische, naive Sicht auf ein durch Anti-Demokratie geschwächtes Land. Wo es keinen Streit, Widerspruch und Kritik gibt, zerbröselt nämlich ganz still und leise auch das Militär.

"Democracy was too strong"

Das ist keine luftige Vermutung, sondern ein gut erforschter Zusammenhang, über den zuletzt etwa die Politikwissenschaftler Dan Reiter und Allan C. Stam in der "Washington Post" berichteten. In drei Aspekten, schreiben sie, hinkten Autokratien hinterher. Erstens: Autokratien würden sich häufiger in riskante Kriegsabenteuer stürzen, resümieren sie, weil niemand widersprechen dürfe - Putin lässt schließlich sogar eine 7-Jährige für ihren Friedensprotest einkerkern. Zweitens: Diktatoren lebten in ständiger Angst vor dem Umsturz. Drittens: Diktatoren umgäben sich mit Ja-Sagern.

Russland verliert also auch, weil es gegen Demokratien antritt. Biden sagte es in Warschau mit einem typischen, nämlich kurzen, Biden-Satz: "Democracy was too strong."

In Deutschland, ausgerechnet, scheint die Öffentlichkeit mit solchen Aussagen zu fremdeln. Schlimmer noch: Der Wert der Demokratie wird geradezu geringgeschätzt, bestenfalls hingenommen als selbstverständlicher Urzustand des Zusammenlebens. Bidens Aussagen scheinen uns zu schwülstig, irgendwie amerikanisch. Dass ein Land wie die Ukraine unter die Gewaltherrschaft einer Autokratie geraten könnte, nehmen allzu große Teile der Öffentlichkeit als schicksalshaft hin. Als wäre die Annexion eine von mehreren Optionen auf dem Weg in eine friedliche Geschichte.

Hexenjagd auf Schwarzer und Wagenknecht

Viele von ihnen werden daher am Samstag dem Aufruf von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht folgen und einen "Aufstand für den Frieden" proben. Gut 600.000 Unterschriften haben sie unter ihrem Manifest gesammelt. Die Kritik an den beiden Reizfiguren war scharf, eine Spiegel-Kolumnistin macht sogar eine "Hexenjagd" aus. Sie hat in einem Recht: Es ist gerade das Wesen der Demokratie, den Austausch und Irrtümer auszuhalten.

Was mag die 600.000 Unterzeichner bewegen? Friedensideale aus Arbeiterkampfliedern vielleicht - und ein toxischer Relativismus. Die Staaten der Welt stehen völkerrechtlich immerhin auf gleichem Rang, ungeachtet ihrer Regierungsform. Demokratie oder nicht hat in dieser Perspektive kein Gewicht. In ihrer Rede vor den Vereinten Nationen - selbst nicht demokratisch organisiert - nimmt Annalena Baerbock das Wort "Demokratie" nicht ein einziges Mal in den Mund.

Auch die geschichtspolitische Wende hin zu einer postkolonialen Betrachtung auf Undemokratien im "globalen Süden" trägt dazu bei, dass die Demokratie als politisches Motiv ein wenig aus der Mode kommt.

Wir sind kein Zaungast

Doch weder die agnostische Sicht der Staatenordnung noch postkoloniale Demut darf überdecken, dass uns die Demokratie wertvoller ist als die Autokratie. Wenn Putin über Teile der Ukraine herrscht, ändert sich dort nicht nur die Landesflagge. Die Ukrainer verlieren dort mit ihrer Freiheit auch die Demokratie. Ist es uns das etwa wert?

Das Schicksal der Ukraine ist nicht die tragische Angelegenheit eines Nachbarn, den man um des lieben Friedens willen zu Kompromissen drängen kann. Mitleid mit der Ukraine ist durchaus das richtige Sentiment: Aber nur, wenn es zur Folge hat, dass wir uns als Schicksalsgemeinschaft begreifen, nicht als Zaungast.

Es geht um die Verteidigung einer politischen Errungenschaft. "Wir sind heute Roosevelt", sagte der frühere Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio kürzlich zum Jahreswechsel in einer Ansprache. Er bezog sich damit auf die "Quarantäne-Rede" von Franklin D. Roosevelt. Der US-Präsident bezeichnete 1937 Japan, Deutschland und Italien implizit als Staaten, die man unter Quarantäne stellen müsse - damit sich die "Gesetzlosigkeit" nicht ausbreite.

Misstrauen gegen den Demokratieexport

Doch die Deutschen von heute misstrauen der Idee eines Demokratieexports seit dem Irakkrieg und spätestens seit dem Abzug aus Afghanistan - aus guten Gründen. Der Überfall auf die Ukraine zeigt allerdings, dass auch die Autokratie zum gewaltsamen Export in der Lage ist und, siehe oben, besonders schnell dazu neigt.

Deshalb ist es nicht nur ein Ausrutscher, wenn die grüne Außenministerin sagt, "wir" führten Krieg "gegen Russland". Deshalb ist es keine leere Formel, wenn Wolodymyr Selenskyj sagt, man verteidige die "ukrainisch-europäische Lebensweise".

Es geht um Demokratie. Das kann man durchaus lauter sagen.

Quelle: ntv.de

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