Recht verständlich Muss man Kollegen beim Chef verpfeifen?
22.11.2016, 12:54 Uhr
Ein Mitarbeiter greift in die Kasse und bereichert sich. Riskiert ein wissender Arbeitskollege bei Schweigen den eigenen Arbeitsplatz und muss zudem den Schaden ersetzen?
Ein Arbeitnehmer ist nicht verpflichtet, ein Fehlverhalten von Kollegen dem Arbeitgeber zu melden - es besteht keine allgemeine Whistleblowerpflicht. Dies hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Mecklenburg-Vorpommern entschieden (Az.: 2 Sa 190/15). Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Arbeitnehmer als Aufgabe die Überwachung des Kollegen gehabt hat oder wenn ihn zumindest eine sogenannte "Aktualisierte Überwachungs- und Kontrollpflicht" trifft.
Eine solche Pflicht verneinte das LAG bei drei Amtsmitarbeitern eines Bürgerbüros, die unter anderem Bargeldkassen führten, in die Bürger unter anderem bei Beantragung eines neuen Personalausweises Gebühren einzahlten. Es stand fest, dass Bargeld in erheblicher Höhe (rund 11.500 Euro) verschwunden war und das Amt ging davon aus, dass alle drei Mitarbeiter Geld für private Zwecke entwendet hatten. Es konnte aber nicht lückenlos nachweisen, welcher Mitarbeiter für welche Einzeltat von Entwendung und Vertuschung durch Quittungsvernichtungen und Stornobuchungen verantwortlich war (insgesamt 385 Einzelvorgänge). Da aufgrund bestimmter Umstände aber jeder der drei von den Taten zumindest gewusst haben musste, sollten alle drei den Schaden auch ersetzen. Argument des Amtes: sie haben es zumindest geschehen lassen, ohne etwas dagegen zu unternehmen. Die Arbeitsverhältnisse wurden alle auf Veranlassung des Arbeitgebers beendet, streitig war am Ende der Schadensersatz.
Anders als bei einer Kündigung, für die auch der reine Verdacht nach Anhörung ausreichend sein kann, muss für den Schadensersatzanspruch die Tat bewiesen werden. Für einen Arbeitnehmer gelten außerdem Haftungserleichterungen, so dass der Arbeitgeber in der Regel Vorsatz nachweisen muss, um eine vollständige Erstattung zu erreichen. Einen solchen Nachweis konnte der Arbeitgeber hier nicht führen. Er konnte weder die Einzeltaten einem konkreten Mitarbeiter nachweisen noch lag ein pflichtwidriges Unterlassen durch Nichtanzeige beobachteter Vergehen vor. Das Gericht verneinte eine Pflicht zur Anzeige bei Mitwisserschaft, weil die Mitarbeiter des Bürgerbüros weder eine ausdrückliche Überwachungspflicht hatten noch eine Überwachungs-und Kontrollpflicht aufgrund ihrer Funktion/Position. Das Gericht merkte an, dass eventuell ein Kassenverwalter, der insgesamt für die Kassen verantwortlich sei, möglicherweise solche Pflichten haben könne, ließ dies aber offen.
Arbeitgeber, die entweder gesetzlich verpflichtet sind, ein Whistleblowersystem einzurichten, oder die aus Compliancegründen ein solches System einführen wollen, können Pflichten der Mitarbeiter auch zur (anonymen) Anzeige regeln. Für ein funktionierendes Whistleblowersystem empfiehlt sich eine externe Ombudsstelle (zum Beispiel Rechtsanwälte mit Schweigepflicht), an die sich Mitarbeiter auch anonym wenden können. Im Rahmen des gesetzlich Zulässigen können auch Zeugnis-/Aussageverweigerungsrechte zugesichert werden. Arbeitgeber mit Mitarbeitervertretungen sollten gegebenenfalls deren Mitbestimmungsrechte beachten.
Rechtsanwältin Dr. Alexandra Henkel MM ist Partnerin der Kanzlei FPS.
Quelle: ntv.de