Wirtschaft

Historisches Erbe "Die Siegermächte haben deutsche Unternehmen zurechtgestutzt"

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"Krupp war einmal das wertvollste deutsche Unternehmen und ist heute mit Thyssen nur noch ein Schatten seiner selbst", sagt Ex-Siemens-Manager Kai Lucks. "Es ist tragisch zu sehen, was aus der deutschen Wirtschaft geworden ist."

"Krupp war einmal das wertvollste deutsche Unternehmen und ist heute mit Thyssen nur noch ein Schatten seiner selbst", sagt Ex-Siemens-Manager Kai Lucks. "Es ist tragisch zu sehen, was aus der deutschen Wirtschaft geworden ist."

(Foto: Federico Gambarini/dpa)

Die deutsche Wirtschaft steckt in der Krise. Immer mehr Industriezweige verschwinden. Der frühere Siemensmanager Kai Lucks schlägt Alarm: Deutschland verschenkt Know-how und verliert Schlüsselindustrien statt alles daranzusetzen, Innovationen "auf die Straße zu bekommen". Was läuft falsch im Land der Erfinder und Tüftler? Was bremst Deutschland aus? In seinem Buch "Der GAU: Wie Deutschland seine führenden Industrien vernichtet - ein Insiderbericht" liefert der "Maschinist" Kai Lucks Antworten. Bei ntv.de gewährt er einen Einblick: Es ist ein Insiderbericht über das Versagen der Politik, Managementfehler, den großen Profiteur China und die "German Angst".

ntv.de: In Ihrem Buch warnen Sie vor der zunehmenden Zerstörung der deutschen Industrie. Wie hat sich Deutschland in diese Lage manövriert?

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Kai Lucks: Das Buch ist, wie der Titel verrät, ein Insiderbericht. Ich war lange Zeit Maschinist in diesem Maschinenraum, wie ich es gerne nenne. Ich kenne die deutsche Industrie wie kaum ein anderer. In den 80er Jahren, zu Hochzeiten der "Germany Inc.", habe ich mit Siemens weltweit große Projekte begleitet. Seitdem hat sich vieles verändert - nicht nur für Siemens, sondern viele Traditionsunternehmen. Die industrielle Basis schwindet, weil Regierungs- und Industriepolitik kollidieren. Wenn diese Bereiche nicht aufeinander abgestimmt sind, fährt das Ganze gegen die Wand. Ich habe diesen Niedergang gewissermaßen live miterlebt.

Deutschland ist nach wie vor eine der größten Volkswirtschaften der Welt. Ist der Begriff GAU nicht etwas übertrieben?

Im internationalen Vergleich wird deutlich, wie schwierig die Lage ist. Ein durchschnittlicher Privathaushalt in China zahlt für Strom nur etwa ein Sechstel dessen, was ein Haushalt in Deutschland bezahlt, und in den Atomkraftländern USA und Frankreich zahlt ein Haushalt nur etwa halb so viel. Hinzu kommen die hohen Personalkosten. Im Fertigungsbereich liegen diese in den USA bei 70 Prozent der deutschen Kosten. In China betragen die Stundenlöhne für Fabrikarbeiter nur ein Zehntel dessen, was in Deutschland bezahlt wird. Das alles bremst die Wettbewerbsfähigkeit. Wir stecken in einer schwierigen Lage, aus der wir unbedingt herauskommen müssen.

Sie beschreiben in Ihrem Buch detailliert den Aufstieg und Niedergang namhafter deutscher Industrieunternehmen, teils über hunderte Jahre. Inwiefern hilft der Rückblick bei der Lösung des Problems?

Aus der Geschichte können wir lernen, wie wichtig langfristige Strategien sind. Ich zeige, wie politische Entscheidungen und operative Fehler etwa den Niedergang großer Unternehmen wie ThyssenKrupp vorbereitet haben. Mithilfe von Simulationsrechnungen versuche ich dann auch zu ermitteln, was passiert wäre, wenn bestimmte Fehler im operativen Geschäft eines Unternehmens nicht begangen worden oder die politischen Entscheidungen anders ausgefallen wären.

Für ThyssenKrupp prognostizieren Sie das Aus bzw. die Zerschlagung. Das ist ein extremes Szenario. Gibt es denn ein gemeinsames Muster bei den Unternehmen, die ihre Glanzzeiten lange hinter sich haben?

Warum Deutschlands Industrie heute so schlecht dasteht, lässt sich nicht pauschal beantworten. Einerseits sind Managementfehler und menschliches Versagen oft entscheidend. Bei ThyssenKrupp etwa liegt die Schuld bei der wenig kompetenten zweiten Krupp-Generation. Andererseits spielen auch externe Faktoren, wie die beiden Weltkriege, eine Rolle. Der Versailler Vertrag und das Vier-Mächte-Abkommen haben die Produktion und den Zugang der deutschen Industrie zu Ressourcen beeinflusst. Deutsche Unternehmen wurden zurechtgestutzt, während sich die Industrien der Siegermächte frei entwickeln konnten.

Ohne diesen Eingriff wäre die deutsche Industrie heute robuster?

Wir hatten in vielen Bereichen Erfinder, die ganze Branchen erfunden haben: etwa die Kernkraft, die Fotografie und die Pharmazie. Das war auch für mich überraschend. Wir waren einst die "Apotheke der Welt". Aber während des Zweiten Weltkriegs haben die Amerikaner Bayer das Patent für Aspirin weggenommen. Wir waren in vielen Bereichen Weltmarktführer: Krupp war einmal das wertvollste deutsche Unternehmen, mit Thyssen ist das Unternehmen heute aber nur noch ein Schatten seiner selbst. Bayer war einmal das bedeutendste Chemieunternehmen usw. Es ist tragisch zu sehen, was aus der deutschen Wirtschaft geworden ist.

Warum konnte die deutsche Industrie denn nicht an die alten Erfolge anknüpfen?

Nach den Kriegen fehlten Innovationskraft und Anpassungsfähigkeit. Wer glaubt, dass die ursprüngliche Strategie eines Unternehmens für immer trägt, liegt falsch. Ein Beispiel ist die AEG. Sie war früher einer der weltweit größten Elektrokonzerne. 1982 musste sie Insolvenz anmelden, weil die Manager nicht fähig waren, sich den neuen Herausforderungen zu stellen. Deutschland hat auch nicht dafür gesorgt, dass neue Unternehmen in den Markt kommen. Die letzte große Unternehmensgründung war 1972 die SAP. Was haben die Amerikaner seitdem gemacht? Wir sind stark, was den Erfindungsreichtum betrifft, aber in der Umsetzung und Implementierung extrem schwach. Wir bringen unsere Innovationen einfach nicht auf die Straße.

China ist der Nutznießer des deutschen industriellen Rückzugs, schreiben Sie. Inwiefern?

China hat keine Innovationskultur, China hat nur das Zigfache an Personalkapazität. Deutsche Unternehmen wie Siemens haben Schlüsseltechnologien freiwillig weitergegeben. Ich selbst habe bei Siemens das Lokomotivgeschäft zusammengekauft. Ein Joint Venture mit China führte dazu, dass Siemens-Technik dort eingeflossen ist. Kurz vor der Serienfertigung kündigten die Chinesen den Vertrag und bauten Tausende Loks mit unserem Know-how. Heute ist die chinesische Bahnindustrie größer als die gesamte westliche Branche zusammen. China nutzt uns aus.

Was hätte Siemens anders machen können?

Siemens hätte bei der Vergabe seiner Technik zurückhaltender sein müssen. Freiwillig Technologie-Know-how abzugeben und ein Joint Venture nicht gesellschaftsrechtlich ausreichend abzusichern, war ein großer Fehler. Schlüsseltechnologien und -wissen müssen in Deutschland bleiben. Ist es einmal weg, ist es auf alle Zeiten verloren. Was grundsätzlich fehlt, ist eine Symmetrie, ein Gleichgewicht zwischen China und Deutschland.

Welche Lehren haben Sie denn sonst noch aus der Geschichte gezogen?

In den verschiedenen Wiederaufbauphasen hätte man sehr viel mehr Druck machen können. Neue, vielversprechende Unternehmungen wie das Transrapid-Projekt wurden ausgebremst oder zerstört. Obwohl die Technologie grundsätzlich einsatzbereit und praxistauglich gewesen wäre, ist das Projekt eingestellt worden. Langfristig hätte es sich gelohnt, dranzubleiben.

Das Projekt wäre zu retten gewesen?

Aus heutiger Sicht ja. Mit einem starken "Long Range Planning", also einer strategischen Planung, die die zukünftige Ausrichtung eines Unternehmens über mehrere Jahre oder sogar Jahrzehnte definiert, kann man seine Chancen zu einem späteren Zeitpunkt nutzen. In der Zwischenzeit achtet man darauf, dass die Technologie nicht verloren geht und andere die Lücke nicht füllen – und zu gegebener Zeit steigt man wieder ein.

Kai Lucks ist geschäftsführender Gesellschafter des MMI Merger Management Instituts und Gründer sowie Vorsitzender des Bundesverbandes Mergers & Acquisitions. Er verfügt über 35 Jahre Erfahrung bei Siemens.

Kai Lucks ist geschäftsführender Gesellschafter des MMI Merger Management Instituts und Gründer sowie Vorsitzender des Bundesverbandes Mergers & Acquisitions. Er verfügt über 35 Jahre Erfahrung bei Siemens.

"Long Range Planning" ist ein amerikanischer Begriff. Können die Amerikaner das besser?

Die Amerikaner nennen es nicht umsonst "The German Angst". Wir haben Angst vor Zukunftstechnologien. Andere Länder, vor allem die fünf Tiger-Staaten in Asien, haben eine unglaubliche Innovationskultur und den Willen, sich in neue Technologien einzuarbeiten. Bei einem Vergleich, wann welches Unternehmen gegründet und welche Technik angeschoben hat, landet Deutschland ganz hinten. Bei der Digitalisierung sind alle Nachbarländer Deutschlands weiter. Im OECD-Vergleich liegen wir im unteren Drittel.

Wie kann Deutschland diese Technologiefeindlichkeit überwinden?

Man darf keine Angst vor dem Scheitern haben, sondern muss anfangen, wohl wissend, dass Schwierigkeiten auftreten können. Umweltprobleme sind ein Beispiel. Wenn man einmal in einer Technologie drin ist, findet man auch Wege, diese Probleme zu lösen. Das gescheiterte Transrapid-Projekt zeigt, wie politische Entscheidungen und mangelnder Wille eine zukunftsweisende Technologie verhindert haben. Siemens und Thyssen waren froh, das Projekt loszuwerden - kurzfristig war es schwierig, langfristig hätte es sich gelohnt.

Sie kritisieren auch Aufsichtsbehörden als Bremsklötze der deutschen Wirtschaft, zum Beispiel von der Deutschen Bank und Wirecard. Inwiefern?

Die Deutsche Bank war einst das bedeutendste Finanzinstitut hierzulande. Ihr Verhängnis war der Schweizer Chef Josef Ackermann, der 2009 eine Kapitalrendite von 25 Prozent ankündigte. Das führte zu Geldwäsche im großen Stil, dem Cum-Ex- , Libor- und Euribor-Skandal sowie anderen Betrügereien - und das zu einem immensen Imageschaden. Wirecard wiederum war ein politisch gewollter Hype, denn es war das einzige Fintech, das Deutschland hatte. Das wurde von der Politik als Vorzeigeunternehmen gepusht. Alle Regulierungsbehörden versagten in diesen Fällen.

Sie kritisieren die Aufsichtsbehörden auch aus einem anderen Grund: Sie entscheiden bei Fusionen zugunsten schwächerer Institute ...

Es gibt mehrere Beispiele für "Arm kauft Reich". Ein Beispiel ist 2005 der Kauf der HypoVereinsbank durch die italienische Unicredit. Die Italiener haben die deutschen Kassen geplündert und damit die Übernahme finanziert. Ein weiteres Beispiel aus einer anderen Branche ist die Übernahme von Hochtief im Jahr 2010 durch das viel kleinere spanische Unternehmen ACS. Die Bafin hat das genehmigt. ACS war hoch verschuldet, aber im Kapitalmarktspiel äußerst geschickt. Hochtief dagegen reich an Substanz, an Projekten und Erträgen. ACS war viel klammer, hat sich aber kurz vor dem Konkurs Hochtief geschnappt, sich bereichert und den Vorstand beseitigt. Das sind zwei eklatante Beispiele für die Schwächung der deutschen Industrie.

Ist es heutzutage nicht egal, ob ein Unternehmen deutsch oder europäisch ist?

Natürlich kann man sagen, das sei egal. Aber das ist falsch. Ich weiß aus persönlicher Erfahrung, dass es sehr wohl entscheidend ist, wo der Vorstand sitzt, denn das sind die Leute, mit denen er emotional verbunden ist. Airbus ist kein französisches, sondern ein europäisches Unternehmen. Aber wird eher zugunsten von Frankreich oder Deutschland entschieden? Der Vorstand sitzt in Toulouse. Das macht den Unterschied. Im Zweifelsfall werden Arbeitsplätze immer woanders abgebaut, nicht am Hauptstandort. Es gibt also viele Faktoren, die den Standort schwächen und die zeigen, wie defekt der Maschinenraum Deutschlands ist.

Mit Kai Lucks sprach Diana Dittmer

Quelle: ntv.de

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