Wenn sich Augenzeugen unsicher sind Identifizierung von Tätern ist optimierbar
23.12.2015, 14:46 Uhr
Augenzeugen sind bei der Wahrheitsfindung wichtig.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Die Aussagen von Augenzeugen werden von Gerichten bei der Urteilsverkündung oftmals berücksichtigt. Allerdings sind falsche Erinnerungen Grund für viele Fehlurteile. Was zu wahrhaftigen Aussagen von Augenzeugen führt, können Forscher nun bestimmen.
Aussagen von Augenzeugen zu Verbrechen sind offenbar oft zuverlässiger als vielfach angenommen. US-Psychologen haben untersucht, wie akkurat Augenzeugen Tatverdächtige identifizieren können – und wovon dies abhängt. Wichtigstes Resultat: Schon bei der ersten Identifizierung sollten Zeugen angeben, wie sicher sie sich ihrer Aussage sind. Diese Selbsteinschätzung zu einem möglichst frühen Zeitpunkt sei zuverlässig und wesentlich glaubwürdiger als Monate oder gar Jahre später vor Gericht. Der deutsche Psychologe Karl-Heinz Bäuml von der Universität Regensburg spricht von einer sehr wichtigen Studie mit einem klaren Ergebnis, das man auch in Deutschland zur Kenntnis nehmen solle.

Die Polizei sucht oftmals mit Aufrufen und Aussicht auf Belohnungen nach Augenzeugen.
(Foto: imago stock&people)
In vielen Strafprozessen sind die Angaben von Augenzeugen ein entscheidendes Indiz, von dem eine Verurteilung oder ein Freispruch der Angeklagten abhängt. Allerdings sind falsche Erinnerungen der wichtigste Grund für Fehlurteile. Die US-Organisation Innocence Project untersuchte kürzlich 333 Schuldsprüche seit 1989, die durch DNA-Analysen widerlegt wurden. Mehr als 70 Prozent dieser Justizirrtümer beruhten auf falschen Angaben von Augenzeugen, betonen die Psychologen um John Wixted von der University of California in San Diego in den "Proceedings" der US-Nationalen Akademie der Wissenschaften ("PNAS")
Bilder nacheinander oder gleichzeitig zeigen?
Inzwischen haben diverse Studien geprüft, wie zuverlässig Angaben von Augenzeugen sind – meist auf Basis von Teilnehmern, die gestellte Szenen beobachteten und danach die Täter identifizieren sollten. In den USA legen Ermittler Zeugen dazu sechs Fotos vor: Eines zeigt den Tatverdächtigen, die übrigen fünf sogenannte Füllpersonen. Manche Studien kamen zu dem Schluss, dass solche Aussagen generell unzuverlässig sind. Andere ergaben, dass das Ergebnis besser ist, wenn die Zeugen die Bilder nicht gleichzeitig vorgelegt bekommen, sondern nacheinander. Inzwischen hätten bis zu 30 Prozent der US-Ermittlungsbehörden diese Praxis übernommen, schreiben die Forscher.
Das Team wertete nun Aussagen von Zeugen echter Raubdelikte aus, bei denen die Polizei von Houston ermittelte. In der Studie sollten 717 Augenzeugen Verdächtige identifizieren – entweder anhand gleichzeitig oder nacheinander vorgelegter Fotos. Zudem sollten die Zeugen auf einer Skala angeben, wie sicher sie sich ihrer Angaben waren: sehr sicher, mäßig sicher oder wenig sicher.
Wichtigstes Resultat: Die anfängliche Selbsteinschätzung der Zeugen erwies sich im Nachhinein als zuverlässig. "Beim Zeitpunkt der ersten Einschätzung können Augenzeugen uns verlässliche Informationen über ihre Zuverlässigkeit geben", wird Wixted in einer Mitteilung seiner Universität zitiert.
Selbsteinschätzung von Zeugen berücksichtigen
Diese Erkenntnis ist keinesfalls selbstverständlich: Oft werden Augenzeugen erst vor Gericht gefragt, wie sicher sie sich sind – meist Monate oder gar Jahre nach dem Vorfall. In diesem Zeitraum kann aus einer unsicheren Annahme Gewissheit geworden sein, die Unschuldigen mitunter zum Verhängnis wird. "Es ist wohlbekannt, dass das Gedächtnis formbar ist, so dass eine anfänglich unsichere Identifizierung bis zu dem Zeitpunkt, an dem ein Zeuge vor Gericht oder in Anhörungen vor dem Prozess aussagt, zur Gewissheit wird", schreiben die Autoren.
Dies müsse man unbedingt berücksichtigen, betonen sie. "Wenn man eine geringe Zuversicht anfänglich ignoriert, macht man einen großen Fehler", sagt der Psychologe Wixted. Zudem deutet die Studie darauf hin, dass das gleichzeitige Vorlegen von Fotos etwas besser ist als eine Aufeinanderfolge von Bildern. Wünschenswert wäre ferner, dass der Ermittler, der die Fotos vorlegt, nicht weiß, welche der Personen der Tatverdächtige ist.
Aufstellung neutral gestalten
"Um Unschuldige zu schützen, muss man erkennen, dass eine anfängliche Identifizierung mit geringer Gewissheit unzuverlässig ist", bilanziert Wixted. "Andererseits, wenn die Aufstellung neutral präsentiert wird, kann eine hohe Gewissheit zu Beginn ziemlich aussagekräftig sein. Richter und Geschworene sollten auf beides achten. Andernfalls leisten sie der Gerechtigkeit im Allgemeinen und dem Schutz von Unschuldigen im Besonderen einen Bärendienst."
Die Studie sei aus verschiedenen Gründen herausragend, erläutert Bäuml. Es sei keine Laborstudie, sondern die Daten stammten aus der tatsächlichen Ermittlungsarbeit der Polizei. Zudem sei im Gegensatz zu vielen früheren Untersuchungen die Selbsteinschätzung der Zeugen erhoben worden. Das Ergebnis, dass eine möglichst frühe Selbsteinschätzung zuverlässig sei, sei extrem deutlich. "Die Größenordnung dieses Effekts ist sehr bemerkenswert", so Bäuml weiter. "Bislang befragt man solche Zeugen während der Ermittlungen sehr oft und verlässt sich dann darauf, was sie vor Gericht sagen. Aber Menschen neigen dazu, ihre Urteile im Lauf der Zeit zu verfestigen. Die Erkenntnisse sollte man auch in Deutschland beachten und in die Rechtsprechung einfließen lassen."
Quelle: ntv.de, jaz/dpa