Leben

"Sind Sie jetzt schwul?" CMBYN-Autor Aciman und seine Leser

Dass über seine Bücher Haus- und sogar Doktorarbeiten geschrieben werden, macht den Dozenten André Aciman glücklich. "Aber schickt sie mir bitte nicht, ich habe genug zu korrigieren!"

Dass über seine Bücher Haus- und sogar Doktorarbeiten geschrieben werden, macht den Dozenten André Aciman glücklich. "Aber schickt sie mir bitte nicht, ich habe genug zu korrigieren!"

(Foto: Sigrid Estrada)

Das Buch "Call me by your name" und der Film dazu machen André Aciman zum Experten in Sachen Liebe. Wenn junge Leser ihn treffen, hat der Autor nicht mehr viel Zeit für Interviews. Aber Schüler stellen ohnehin die unverblümteren Fragen.

André Aciman lacht. Nein, er sei tatsächlich nicht schwul und ja, sie habe recht. Dass er vorhin von seiner Frau und seinen Söhnen erzählt habe, müsse nicht zwangsläufig bedeuten, dass er heterosexuell sei. Solle er mal raten, was sie noch wissen wolle? Wie seine Söhne es finden, dass er mit "Call me by your name" eine schwule Liebesgeschichte geschrieben habe, oder? Unbeeindruckt von dem Gelächter ihrer Klassenkameraden nickt die Schülerin entschlossen. Ja, das würde sie gerne wissen. "Sie haben nur gesagt: 'Dad, tue einfach, was du tun musst'."

Auf dem Internationalen Literaturfestival in Berlin hat der aus New York angereiste Aciman sein junges Publikum im Griff. Mit sanfter Stimme bringt er es zum Lachen, manchmal auch aus Verlegenheit. Vor Schülern im Alter von etwa 16, 17 Jahren zu lesen, kann eine Herausforderung sein, aber Aciman findet einen Draht zu den Jugendlichen, kreiert eine Stimmung im Raum, in der alle Fragen erlaubt sind.

Zum Beispiel die, warum er ausgerechnet einen Liebesroman zwischen zwei Jungen geschrieben hat? "Ehrlich gesagt, wollte ich zunächst über einen Jungen und ein Mädchen schreiben, die sich in Italien verlieben. Aber diese Geschichte wurde bereits so oft erzählt, ich wollte es interessanter machen. Ich wollte, dass die Sache komplizierter ist, dass es Grenzen gibt, die man überschreiten muss."

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Mit seiner Idee hat der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler, der zeitweise auch an der Wall Street gearbeitet hat, den richtigen Riecher. Die 2007 veröffentlichte Geschichte von Elio und Oliver, die sich im Italien der 1980er Jahre ineinander verlieben, wird zum Bestseller, zehn Jahre später sorgt die Verfilmung mit Timothée Chalamet und Armie Hammer für einen weiteren Popularitätsschub. "Aber im Grunde hat mich das Buch nie verlassen", verrät Aciman zwischen Lesung und seinen nächsten Terminen n-tv.de. "In den USA ist der Roman all die Jahre über populär geblieben. Ich weiß etwa, dass viele Leser es beim Outing ihren Eltern gegenüber benutzt haben. Und ich liebe es, wenn sie, wie das Mädchen vorhin, einfach fragen, ob ich schwul bin oder nicht. Ich glaube, ich erreiche sie, weil es eine pure Liebesgeschichte ist. Romeo und Julia, wenn sie nicht aus den falschen Familien gekommen wären, sondern sich einfach im Urlaub getroffen hätten. Es ist Sommer, es ist Italien, alle sind glücklich, also lass dich fallen und verliebe dich."

Experte in Liebesdingen

Während das Feuilleton sich bei Rezensionen zu Acimans Büchern oft immer noch kunstvoll um das Thema Homosexualität herumwindet, nehmen die Schüler den Autoren einfach als Experten in Sachen Liebe an, den man auch schon mal vor der ganzen Klasse um Rat bittet, wenn man gerade schlimmen Liebeskummer hat. "Dir hat jemand das Herz gebrochen? Also, wenn mich am Freitag ein Mädchen versetzt hat, hatte ich am Sonntag eine Verabredung mit der nächsten! Aber im Ernst sage ich dir, der Kummer wird vergehen, aber die Erfahrung jemanden geliebt zu haben, wird dein Leben reicher machen."

Im Übrigen habe doch jeder, der verliebt gewesen sei, sich schon mal dumm verhalten: "Come on, was zum Beispiel Elio mit Oliver im Buch macht, dieses psychologische Stalken, das habt ihr doch schon alle gemacht, oder? Kurz vor dem Ende der Stunde zufällig vor dem Klassenraum rumhängen, wo sie drin sitzt, um ihr 'ganz zufällig' zu begegnen, das kennt ihr doch oder? Und ihr solltet jetzt nicht vor euren Freunden hier die Hand heben, aber wie viele von euch haben schon herausgefunden, wie schwer es ist, jemandem zu sagen, dass man in ihn verliebt ist?"

Liebe in alle Richtungen

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Auch in Acimans aktuell auf Deutsch erschienenem Buch "Fünf Lieben lang" geht es um Liebe und Liebesleid: Hauptfigur Paul durchlebt beides immer wieder - und verliebt sich dabei in Frauen und Männer. "Mich interessiert Liebe in alle Richtungen", erklärt Aciman. "Ich glaube, dass Menschen fluid sind, keiner ist nur schwul oder hetero. In der Essenz gibt es nicht die eine sexuelle Identität, sondern mehrere. Ich glaube, das gilt für Identität an sich. Ich bin zum Beispiel jüdisch, gehe aber der Kunst wegen lieber in Kirchen. Ich bin in Ägypten geboren, später flohen wir nach Rom und ich wurde Italiener, weil mein Vater einen Pass gekauft hatte. Ich war zwischendurch sogar Türke, obwohl ich nicht ein Wort türkisch spreche. Heute lebe ich in New York und bin wohl Amerikaner. Es ist ein Chaos, aber ich liebe die Freiheit, mich immer wieder anders zu sehen." Dazu gehört, dass Aciman die Sprachen, in denen er denkt und schreibt, wie "in einer Wechselstube" austauscht. In englischen Schulen erzogen, sei er es gewohnt, Hausarbeiten und nun halt Romane auf Englisch zu verfassen. "Aber wenn ich unterwegs bin und mir etwas einfällt, mache ich mir die Notizen auf Französisch oder Italienisch."

Auch wenn sich diese Sprachvielfalt in seinen Büchern ebenso niederschlägt, wie seine Vorliebe für antike Literatur oder klassische Musik, glaubt Aciman nicht daran, dass man alles selbst erlebt haben muss, um darüber zu schreiben. "Ich bin ein Autor, ich muss mir vorstellen können, wie sich zum Beispiel so eine erste, homosexuelle Liebe anfühlt. Ich habe die Liebesgeschichte von Elio und Oliver beim Schreiben durchlebt, ich war Elio, ich war Oliver. Aber wenn mich meine Frau zum Abendessen ruft, klappe ich den Laptop zu, gehe runter und bin wieder ihr Ehemann."

Träume realer als das Leben

In "Fünf Lieben lang" knüpft Aciman scheinbar an seine Erfolgsgeschichte um Elio und Oliver an. Wieder verbringt ein Junge den Sommer in Italien und ist fasziniert von einem älteren Mann. Doch schon in der nächsten Episode trifft man die Hauptfigur Paul Jahre später in New York wieder. Nachdem seine erste Liebe ein überraschendes Ende genommen hat, lebt er nun mit Maude zusammen. Er ist sich nicht sicher, ob sie ihn noch will, und verliebt sich gleichzeitig in seinen Tennispartner Manfred. Später kommt noch die Liebe zu Chloe, Heidi und Claire hinzu. Oder das Begehren. Auf jeden Fall das Sehnen.

Der Wechsel zwischen den Geschlechtern spielt im ganzen Buch nur eine Nebenrolle, wichtiger ist Aciman ein anderes seiner Lieblingsthemen: die Macht der nicht gelebten Träume. In einer Episode träumt Paul davon, wie er mit seinem heimlichen Schwarm Manfred Hand in Hand spaziert und glaubt am Morgen, dass dieser Traum besser ist, als alles, was ihm je wirklich im Leben passiert ist. "So ein Traum kann realer sein als das Leben. Ich nenne es die 'Hätteseinkönnens'", sagt Aciman. "Für mich ist es der Ort, in dem wir in Wirklichkeit alle leben. Es ist nicht nur Fantasie, es ist etwas, das in der Vergangenheit hätte passieren sollen und vielleicht noch in der Zukunft passieren wird."

Das Bedauern über nicht eingeschlagene Wege, aber auch die Ernüchterung, die die Erfüllung mancher Träume mit sich bringen kann, werden in "Fünf Lieben lang" so treffsicher beschrieben, dass Aciman seinen Ruf als Experten in Sachen Liebe, Begehren und Sehnsucht damit sicher weiter ausbauen wird. Für die reiferen CMBYN-Fans wird "Fünf Lieben lang" zudem eine berührende Antwort darauf geben, wie das Leben nach einem italienischen Sommer vermutlich weitergeht. Doch auch Elio und Oliver haben André Aciman nicht ganz losgelassen: Im Herbst erscheint zunächst auf Englisch mit "Find me" die Fortsetzung zu "Call me by your name".

Die Schulklasse ist erst mal all ihre Fragen zur ersten Liebe - egal, welche - losgeworden, hat den Bücherstand leer gekauft und sich mit Autogrammen und Selfies ausgestattet. André Aciman muss schnell zu seinem nächsten Termin, die ausgedehnte Fragestunde hat ihm keine Zeit zum Mittagessen gelassen. "Schon wieder!"

Quelle: ntv.de

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