Leben

Carretti aus Frauenhänden Emanzipation auf Sizilianisch

Nerina Chiarenza würde ihr Können gern weitergeben, aber an wen?

Nerina Chiarenza würde ihr Können gern weitergeben, aber an wen?

(Foto: Andrea Affaticati)

Jeder, der schon einmal auf Sizilien war, kennt die bunten Karren. Einst fuhren sie ganz selbstverständlich durch Siziliens Straßen, Bau und Dekoration waren den Männern vorbehalten. Aber um Konventionen dieser Art scherte sich Nerina Chiarenza noch nie.

Nerina Chiarenza sprüht vor Lebensfreude und Temperament. 87 Jahre ist die Sizilianerin inzwischen. Ihr Beruf ist das Dekorieren der Carretti Siciliani, das sind die reich bemalten und von Pferden gezogenen Karren, die einst überall durch Siziliens Dörfer und Felder zogen. Auf den Straßen sieht man inzwischen keine mehr, jeder Besucher kennt sie aber als Souvenir. Der Caretto Siciliano zählt zu den Wahrzeichen der Insel und wurde für Chiarenza zur Berufung.

Die Karren sind aufwendig bemalt.

Die Karren sind aufwendig bemalt.

(Foto: Andrea Affaticati)

Nicht nur ihr Talent haben Frau Nerina Erfolg und Ruhm weit über Siziliens Grenzen gebracht. Sie ist auch die einzige Frau, die sich dieser Arbeit gewidmet hat, die eigentlich ausschließlich von Männern ausgeübt wurde. "Wir sprechen von den frühen 70er-Jahren, als ich begonnen habe. Damals war das fast schon eine Dreistigkeit meinerseits und hat für viel Kopfschütteln und Geschwätz gesorgt", erzählt Frau Nerina ntv.de, während eines Besuchs bei ihr zu Hause. Sie lebt in Aci Sant'Antonio, einer Gemeinde mit 18.000 Einwohnern knapp 15 Kilometer nördlich über der Hafenstadt Catania. Einst war hier die "Heimat der Carretti-Bauer", heute ist es ein mehr oder weniger anonymes Städtchen.

Um Chiarenzas Lebensgeschichte, oder besser noch ihr Lebenswerk, aus der richtigen Perspektive zu sehen, muss man für die erste Aufnahme ein Weitwinkel-Objektiv auf die Kamera schrauben. Es ist Ende Juli, um die Mittagszeit, es sind gefühlte 40 Grad, die Straßen wie ausgestorben. Wie es in Adriano Celentanos Lied "Azzurro" heißt: "Nicht einmal ein Pfarrer zum Tratschen ist mehr da." Die Kreuzung, wo der Autobus aus Catania die Besucher ausgeladen hat, erinnert an den Set des Oscar-gekrönten Films von Giuseppe Tornatore, "Cinema Paradiso".

Fröhliches Chaos

Jeder Karren ist ein Einzelstück.

Jeder Karren ist ein Einzelstück.

(Foto: Andrea Affaticati)

Frau Nerina wohnt in einem Einfamilienhaus, nur wenige Minuten vom Piazza Maggiore entfernt, dem Hauptplatz, wo auch die dem Schutzpatron Sant'Antonio Abate gewidmete Kirche steht. Die Räume sind spiegelblank poliert, bis man ihr ganz persönliches Reich erreicht. Hier herrscht ein buntes Durcheinander. Überall sieht man dekorierte Carretti-Teile, an den Wänden hängen auch Fotos, die sie mit bekannten italienischen Politikern und Leuten aus dem Showbusiness zeigen. Und mitten in diesem fröhlichen Chaos ein wunderschöner Carretto. "Den habe ich für mich restaurieren lassen und dann bemalt. Mein Sohn, der Bildhauer ist, hat dabei mitgeholfen." Die Kunstfertigkeit eines Carretto bestehe nämlich nicht nur aus der Bemalung, sondern auch aus feinster Schnitz- und Schmiedearbeit, wie man an den Räderstrahlen sehen kann. Jeder einzelne ist mit eingeschnitzten Figuren dekoriert.

Von wem sie das Maltalent geerbt hat, weiß Frau Nerina nicht. Wer aber ihr die Leidenschaft für die Carretti Siciliani vererbt hat, ist klar: Es war ihr Vater, der sie baute. Als Kind war sie ständig in seiner Werkstatt und schaute ihm viel ab. Ganz normal war das in Aci Sant'Antonio, der Heimat der Carretti im östlichen Teil der Insel. Hier gibt es auch ein Carretto-Siciliano-Museum.

Die ersten Karren wurden im 19. Jahrhundert gebaut und dienten dem Transport von Waren jeglicher Art. Mit der Zeit wurden sie dann auch bemalt, zumindest die der Wohlhabenden, und angesichts der gewählten Motive zu so etwas wie rollenden Geschichtsbüchern und Theaterstücken. Die Sujets waren meistens an denen der Pupi, den sizilianischen Marionettenvorstellungen orientiert. Besonders beliebt war seinerzeit die Darstellung des Versepos "Der rasende Roland", das wichtigste Werk des Humanisten Ludovico Ariosto.

Frau Nerina hatte sich das Handwerk abgeschaut - nur selbst an einen Carretto Hand anzulegen gehörte nicht zu den Sitten ihrer Zeit. Sie ist schließlich eine Frau, ihre Aufgabe war es, sich um Haus, Kinder und Mann zu kümmern. Das passte aber nicht zu ihrer rebellischen Natur. "Schon mit 14 bin ich mit meinem Freund durchgebrannt. Hier nennen wir das eine 'Fuitina'." Eine Liebesflucht im noch tief archaischen Sizilien des Jahres 1948. Dazu brauchte eine unglaublich große Portion Mut. "Natürlich folgte darauf die Hochzeit, aber nicht in der Kirche, sondern als Strafe in der Sakristei", fährt Frau Nerina fort.

Lästernde Stimmen in der Gemeinde

Vier Kinder hat sie großgezogen, zwei Jungs und zwei Mädchen. Ganz nach Tradition und Erwartungen. Als diese dann aber flügge wurden, beschloss sie, ihrer Leidenschaft endlich freien Lauf zu lassen. Sollten sich die anderen doch den Mund zerreißen. Ihr Mann war auf ihrer Seite und nur das zählte.

"Mein Mann war Jäger und brachte mir immer wieder Teile von alten Carretti nach Hause, die er in den Wäldern und auf den Feldern fand. Ich restaurierte und bemalte sie. Das erste Stück verkaufte ich 1970 für 3000 Lire." Heute wären das 1,50 Euro, damals natürlich mehr, aber auch nicht wirklich viel. Überwältigend war für sie die Tatsache, dass sie Abnehmer fand und mit der Zeit auch große Aufträge bekam. Zu den ersten Kunden zählten die Amerikaner der NATO-Stützpunkte in Neapel und in Sizilien.

Mehr zum Thema

Das Geschäft nahm schnell Fahrt auf, schon 1973 veröffentlichte die Wochenzeitung "Panorama" einen großen Artikel über sie. Immerhin war sie die einzige Frau, die die Tradition weiterführte. Sie bekam auch Aufträge von Theaterregisseuren. Nur daheim blickte man weiter mit Argwohn auf sie. Wahrscheinlich auch, weil sie sicher mehr als ihr mittlerweile verstorbener Mann Alfio verdiente, der Angestellter in der Gemeinde war.

Heute malt sie ausschließlich zum Vergnügen, Aufträge nimmt sie keine mehr an. "Nur, wer wird nach mir die Tradition weiterführen?", fragt sie sich. "Zu meiner Zeit konnte man an der Kreuzung Quattro Canti den Karrenbauern zusehen. Jetzt gibt es weit und breit keine mehr und das ist schade, denn auch sie sind ein Teil unserer Wurzeln, auch wenn die Carretti von motorisierten Fahrzeugen ersetzt wurden." Wobei, so ganz in Vergessenheit sind sie doch nicht geraten: In Palermo sieht man zum Beispiel kleine Ape-Fahrzeuge im Carretti-Stil dekoriert. Und wer weiß, in Zeiten von mehr Nachhaltigkeit könnten ja auch die Carretti wieder in Mode kommen.

Quelle: ntv.de

Social Networks
Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen