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Der Osten, wie er leibte und lebte Blick zurück mit Amüsement und Wehmut

Jochen Schmidt im Gleimtunnel, früher Grenze zwischen Ost- und Westberlin, heute zwischen den Stadtteilen Prenzlauer Berg und Wedding.

Jochen Schmidt im Gleimtunnel, früher Grenze zwischen Ost- und Westberlin, heute zwischen den Stadtteilen Prenzlauer Berg und Wedding.

(Foto: imago/Rolf Zöllner)

Was ist eigentlich noch übrig von der DDR? Und wie lebte es sich dort als Kind und Jugendlicher? Die Region ist für viele Westdeutsche auch 25 Jahre nach Mauerfall immer noch Neuland. Dagegen gibt es jetzt eine Gebrauchsanweisung - und eine Zeitreise in Buchform.

Die DDR - was war sie eigentlich, wie war das Leben in ihr, auf der ganz persönlichen Ebene? Wie war die Kindheit im "Arbeiter- und Bauernstaat", die Jugend, das Aufwachsen, das Familienleben, die Schulzeit? In den letzten Monaten erschienen so einige Autobiografien oder Rückblicke von in der DDR geborenen Künstlern, Politikern oder anderen Bekanntheiten, von Rammstein-Flake bis Berghain-Marquardt. Vielleicht bot der 25. Jahrestag des Mauerfalls oder der Wiedervereinigung den passenden Anlass, vielleicht war es Zufall. Auch Jochen Schmidt, Jahrgang 70, aufgewachsen in Ostberlin, schaut gern zurück. So gern, dass er die ersten 30 Jahre seines Lebens gern nochmal als Film sehen würde, schreibt er.

"Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland" ist bei Piper erschienen, 240 Seiten, 14,99 Euro.

"Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland" ist bei Piper erschienen, 240 Seiten, 14,99 Euro.

Schon in "Drüben und Drüben", einem gemeinsamen Buch mit dem "West-Autoren" David Wagner, spürte er den Besonderheiten seiner Kindheit in der DDR nach. Nun sind kurz hintereinander zwei Bücher von ihm erschienen, die Ähnliches zum Thema haben: "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland" und "Der Wächter von Pankow".

Bevor man denken könnte: Jochen Schmidt ist aber ganz schön begrenzt in seinem Sujet, immer nur DDR und Kindheit und wie es früher im Osten war - er hat auch die "Gebrauchsanweisung für die Bretagne" und die "Gebrauchsanweisung für Rumänien" verfasst (als Teil der so genannten Reihe im Piper-Verlag) und noch so einige andere Werke zu ganz verschiedenen Themen.

Was ist noch da von der DDR?

In der nun erschienenen "Gebrauchsanweisung" geht er auf eine Reise durch das Ostdeutschland von heute und sucht und findet, was von früher noch da ist. Aus der Zeit seiner Kindheit und Jugend in der DDR, Hinterlassenschaften der "sozialistischen Bruderländer", der Sowjetunion als Befreier und Besatzer. Warum diese Spurensuche? "25 Jahre war ich in der ganzen Welt unterwegs, aber auf die Idee, durch meine alte Heimat zu reisen und nachzusehen, was davon geblieben ist, komme ich erst jetzt. Und plötzlich habe ich es eilig, denn vieles von dem, was ich sehen werde, wird in wenigen Jahren schon verschwunden sein", erklärt Schmidt im Buch seine Motivation. Und: "Ich bin für jede Form von Bewahren, denn die Wiederbegegnung mit Gegenständen des täglichen Lebens ist immer lehrreich und weckt Emotionen."

Jochen Schmidt wirft einen liebevollen Blick zurück und geht auf Spurensuche.

Jochen Schmidt wirft einen liebevollen Blick zurück und geht auf Spurensuche.

(Foto: Tim Jockel/Piper)

Auf Flohmärkten muss er sich zurückhalten, alle alten Spielzeuge und andere schöne Dinge "zu retten", weil seine Wohnung schon davon überquillt. Fotografieren ist da platzsparender. (Leider enthält die "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland" keinerlei Fotos, so dass Nichtauskenner oft nicht wissen, worauf Schmidt sich bezieht.) Mit liebevollem Blick zieht er durch die Gegend und erinnert sich an Familienurlaube, Ferienlageraufenthalte und Schulerlebnisse - anhand von Bauten, Schildern, Zäunen, Schriftzügen, Laternen, Spielplätzen ... anhand von Details, für die Schmidt ein besonderes Auge hat. Nicht alles, was seine Begeisterung entfacht, dürfte ungeteilte Zustimmung erfahren - wie etwa die Schönheit der bekieselten Fassaden von Plattenbauten oder seine Faszination für Brandmauern. Aber im Vergleich zur oft seelenlosen Architektur der folgenden Jahrzehnte erscheint doch vieles in anderem, besserem Licht.

Früher pfui, heute hui

Bei seiner Zeitreise in die DDR neigt Schmidt zwar zur zärtlichen Verklärung und zu leiser Wehmut über Verlorenes, aber nicht zur Ostalgie. Man könnte diesen Rückblick auch in anderen Regionen anstellen - sie würden dann nur eben ganz anders aussehen. Er räumt auch ein, dass er einiges, was er früher verachtete oder ignorierte, jetzt faszinierend oder interessant findet - wie etwa die russische Sprache oder in der DDR hergestelltes, wunderbares Spielzeug. Früher war für Ostler alles aus Westdeutschland per se spannender und besser - und gegen die Freundschaft zur Sowjetunion per Staatsdoktrin gab es eine innere Abwehrhaltung. Aber heute lernt Schmidt "so viel über mein Leben, indem ich die Dinge von früher noch einmal genau betrachte."

"Der Wächter von Pankow" ist bei C.H. Beck erschienen, gebunden, 237 Seiten, 18,95 Euro.

"Der Wächter von Pankow" ist bei C.H. Beck erschienen, gebunden, 237 Seiten, 18,95 Euro.

Auch in "Der Wächter von Pankow" begibt sich Jochen Schmidt auf eine Reise in die Vergangenheit - aber speziell in seine eigene. Er blickt zurück in die erwähnten ersten 30 Jahre seines Lebens, die er gern nochmal betrachten würde - und auch noch in die Jahre danach. Das geschieht in einer Sammlung von Texten ohne direkten roten Faden - nur eben seine Erlebnisse, Begegnungen, Beobachtungen und Gedanken. Da geht es um Briefmarken und den besten Kaffee (der teuerste muss seiner Ansicht nach auch der beste sein), um Proust, Doppelfenster und die bereits erwähnten Brandmauern. Deren zunehmendes Verschwinden er bedauert, ebenso wie das seines "geliebten DDR-Bürgersteigpflasters" und seiner "geliebten Laternen". Denn "noch während wir leben, wird die Kulisse abgebaut, die Dinge, an denen wir hängen, und wir müssen dabei zusehen", stellt Schmidt fest.

Früher besonders, heute alltäglich

Er erinnert sich auch an große Genüsse, die heute keine mehr sind, wie ein kaltes Wiener Würstchen in eine Ketchup-Flasche zu tunken. Denn in der DDR war Ketchup Mangelware und wenn es mal welchen gab, bekam jeder nur drei Flaschen. Heute ist das Angebot an diversen Ketchupsorten unüberschaubar groß, man hat eher die Qual der Wahl als die Freude über den Kauf. Überangebot statt Mangelwirtschaft.

In der sehr schönen Geschichte über Briefmarken widmet er sich mit großer Zuneigung dieser Sammelleidenschaft und dem "Hobby, das man lernen muss wie einen Beruf". (Und überlegt, ob er wohl mal berühmt genug sein wird, um selber eine Marke zu zieren.) In einem ausführlichen Kapitel legt Schmidt seine große Faszination für Ungarn und die ungarische Sprache dar - er lernt "Ungarisch, um das zu lesen, aber auch, um wie die Ungarn mit Außerirdischen kommunizieren zu können." Vor dem Mauerfall kam DDR-Bürgern das Land ja schon wie Westen vor, mit all dem Danone-Joghurt, McDonald's und "allen Schallplatten der Welt" - kaum erschwinglich wegen des schlechten Kurses der DDR-Mark zum Forint. Ungarn, das Land der unerfüllbaren Träume. Auch hier hat sich der Blick komplett verschoben: "Damals habe ich in Ungarn den Westen gesucht, heute suche ich den Osten."

Eigentlich interessiert sich Jochen Schmidt für so ziemlich alles - Sprachen (die er immer gleich lernen will), fremde Länder, Mineralogie, Philatelie, Literatur ... - und daran lässt er uns in der gesamten Bandbreite und auch im kleinen Detail teilhaben. "Der Wächter von Pankow" ist ebenso wie "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland" amüsant geschrieben, man liest beide Bücher mit Vergnügen, wird an das eine oder andere erinnert und lernt auch noch was dabei. Was kann man beim Lesen mehr erwarten?

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Quelle: ntv.de

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