"Das dunkle Paradies" In der Hölle gibt's auch kalte Küche
18.03.2012, 06:50 Uhr
Ein weiblicher Octopoteuthis deletron in 851 Metern Tiefe im Monterey-Canyon.
(Foto: picture alliance / dpa)
Die Tiefsee ist die Terra incognita des 21. Jahrhunderts. Doch in den schattenhaften Halbwelten, die vom Licht und vom Leben der oberen Wasserschichten zehren, wimmeln Lebewesen, ebenso wie in den Gashydratfeldern in extremer Tiefe und ewiger Dunkelheit.
Seit der sogenannten Volkzählung der Meere, bei der Hunderte neuer Arten entdeckt wurden, sind die Ozeane als Ursprung allen Lebens wieder mehr in das Blickfeld einer nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit gerückt. Die Tiefen der Meere, das ist das Reich von Kapitän Nemo und Jacques Cousteau, eine Welt voller Klischees und Halbwissen. Antje Boetius, Tiefseeforscherin am -Institut für Polar- und Meeresforschung, und ihr Vater, der Schriftsteller Henning Boetius, machen sich mit ihrem Buch "Das dunkle Paradies" daran, damit aufzuräumen und den Leser auf den neusten Stand der Erkenntnisse zu bringen. Das ist bei einer fast zweihundertjährigen Publikationsgeschichte zu diesem Thema nicht ganz einfach.
Aus diesem Grund haben die beiden Autoren den bisherigen Stand der Tiefseeforschung zunächst gebündelt und für Laien verständlich angerichtet. Dabei beschränken sie sich nicht nur auf eine rein wissenschaftliche Beschreibung dieses Lebensraumes, sondern studieren ihn auch in literaturgeschichtlicher und philosophischer Hinsicht.
Wissenschaft unterhaltsam verpackt
Im Zentrum des Buches steht der Ozean, der immer wieder als gigantische Badewanne beschrieben wird. Dieses Leitbild ist nicht nur originell und einprägsam, sondern hilft auch, auf fast 500 Seiten den Überblick zu behalten. Der naturwissenschaftliche Teil des Buches versucht eine möglichst komplette Antwort auf die Frage zu geben, wie das Leben im Meer und speziell in der überhaupt möglich ist, nach welchen Regeln es funktioniert und welche Parameter es beeinflussen.
Systematisch werden die physischen Parameter vorgestellt und die geologische Entstehung und Entwicklung der Ozeane sowie die Bildung von Sedimenten und Relief thematisiert. Doch Wasser ist ein Stoff mit "verrückten" chemischen Eigenschaften, deshalb erklären die Autoren unter anderem den Begriff "Corioliskraft", beantworten die Frage nach dem möglichen Ursprung vom Wasser und erläutern den essenziellen Zusammenhang von Trägheit und Viskosität für das Leben unter Wasser.
Biologie, Chemie, Physik, Geographie?
Danach erst wagen sie sich an das Mysterium, das die Tiefseeforschung im Kern wirklich umtreibt: wie funktioniert das Leben unter Wasser? Wie existiert die Lebewesen, wie fressen sie, pflanzen sich fort und sterben sie, in einer Welt, scheinbar ohne Licht, ohne Nahrung, ohne Artgenossen, dafür unter unvorstellbar hohem Druck, eisiger Kälte und umgeben von giftigen Gasen?
Der Blick in die verborgene Wasserwelt zeigt ein Leben, das zwar im Prinzip nach den gleichen Regeln funktioniert wie das unsere, gleichzeitig aber für alle Probleme sehr individuelle und geradezu grotesk anmutende Lösungen gefunden hat. Die Bewohner unserer "Badewanne" werden dabei mit einer höchst unterhaltsamen Mischung aus sachlicher Neugierde und Sensationslust beschrieben.
Natürlich kommen die Autoren auch nicht um die Fragen nach Erhaltung, Schutz und zukünftiger Nutzung der Ozeane herum. Dabei prangern sie die altbekannten Wahrheiten an, die auch dieses Mal wieder schmerzvoll und beschämend sind, thematisieren aber auch auf ganz realistische Weise sehr verschiedene Lösungsansätze.
Sie scheuen sich jedoch auch nicht, das im Öko-Zeitalter wenig populäre Thema der zukünftigen Nutzung anzuschneiden. Dabei wird auch der Gebrauch, den der Mensch von seiner Umwelt macht, keineswegs verteufelt. Mit wissenschaftlicher Neugier werden zukünftige Ergebnisse erwartet und vorausgesehen. Vielleicht könnte gerade die DNA von Tiefseelebewesen der Schlüssel zur Bekämpfung unheilbarer Krankheiten sein?
Interdiszipläner Ansatz
Trotz dieser Fülle an Details und der faszinierenden wissenschaftlichen Zusammenfassung sind es nicht die reinen Informationen, die dieses Buch zu einem solchen Erlebnis machen. Dem methodischen Tauchgang ist eine ganze andere Durchdringung des Ozeans vorangestellt. Die Autoren beginnen ihr sonst eher typisch populärwissenschaftlich aufgebautes Buch mit der Geschichte von der uralten Beziehung zwischen dem Menschen und dem Meer.
Dabei führen sie den Leser quer durch die Jahrhunderte, präsentieren ihm die Meinungen von Philosophen, Forschern und Literaten und bieten ihm so ein breites Spektrum an Wahrnehmungen zu ein und demselben Thema. Von der Dämonisierung der Naturgewalt, der Unterstellung von Aggressionen gegen den Menschen bis hin zur Glorifizierung des Meers als Medium des Übernatürlichen und Spiegel der unergründlichen Psyche, von Todesangst bis Todessehnsucht, ausgelöst durch die Begegnungen mit dem endlosen Meer, werden hier in philosophischer Hinsicht wohl so ziemlich alle Häfen angefahren.
Highheels an Bord
Die logische Verbindung dieser beiden gegensätzlichen Sichtweisen sind die Erfahrungen eines heutigen Tiefseeforschers. Das zeigt Antje Boetius' Logbuch einer Forschungsreise zur Probenentnahme an einem Schlammvulkan. Dieses Stück Realität rundet die Mischung wahrlich gelungen ab, zeigt es doch, dass auf See das Wetter rau und Schlaf Mangelware ist und die Forschungsarbeit damals wie heute einem Kampf mit den Elementen gleicht, die ihre Geheimnisse auch modernster Technik nur ungern preisgeben. Dabei rückt auch die menschliche Seite der doch nicht so entrückten Tiefseeforscherin in den Vordergrund, zum Beispiel, wenn diese beschließt, so unvernünftig zu sein, ihre Lieblings-Highheels mit auf die Expedition zu nehmen.
Durch das ganze Buch, sowohl durch den geistes- als auch durch den naturwissenschaftlichen Teil, ziehen sich wie ein Leitmotiv der Name und die Arbeit von Leonardo da Vinci. Im selben Geiste wie das Universalgenie bemühen sich die Autoren um einen synergetischen Blick auf das Meer, um ein globales Verständnis, um eine Verknüpfung des Wissens und das Erfassen des Ganzen. Dieses ambitionierte Unterfangen gelingt ihnen auf beeindruckende Weise. Mehr noch, das Buch geht mit gutem Beispiel voran und wendet schon praktisch an, was die beiden Autoren als Idealzustand zukünftiger Wissensvereinigung erträumen.
Wissen muss geteilt werden
Was sie zeigen, ist, dass das Inselwissen einzelner Menschen unseren Planeten nicht retten wird, selbst wenn die Mittel, die wir bräuchten, uns längst zugänglich wären. Wir dürfen unser Wissen nicht eifersüchtig hüten, sondern müssen es teilen, denn nur aus der Summe der einzelnen Teile kann ein Ganzes entstehen. Antje und Henning Boetius, die selbst theoretisch aus den zwei "feindlichen" Lagern stammen, kritisieren damit auch die allzu strenge Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften.
Im Grunde, auch das zeigt dieses Buch, sind es ja eigentlich nur zwei verschiedene Sichtweisen auf ein und dieselbe Sache. Man könnte sie also auch vereinigen und die Ergebnisse zu einem kompletteren Gesamtbild zusammenfassen. Doch ganz egal, ob Geistes- oder Naturwissenschaftler, dieses Buch löst eine unbeschreibliche Sehnsucht nach der Weite des endlosen Wassers aus und alle, die bei Beginn der Lektüre noch nicht rettungslos in das Meer verliebt waren, werden es spätestens danach sein.
Quelle: ntv.de