Bücher

Rätsel um die Zarentochter Wer war die falsche Anastasia?

Franziska Czenstkowski landet in der Nervenheilanstalt und behauptet, sie sei die Zarentochter Anastasia.

Franziska Czenstkowski landet in der Nervenheilanstalt und behauptet, sie sei die Zarentochter Anastasia.

(Foto: Simon Schwartz / Avant-Verlag 2018)

Eine Frau behauptet, die Zarentochter Anastasia zu sein. Und viele Menschen glauben ihr. Selbst Gleb Botkin, der als Kind die echte Anastasia kannte. Simon Schwartz erzählt in "Ikon" bildgewaltig die Geschichte dieser beiden tragischen Figuren.

Franziska Czenstkowski wurde 1896 als Tochter eines Bauern in der Nähe von Danzig geboren. Sie starb 1984 im US-Bundesstaat Virginia, allerdings unter anderem Namen: Man kannte sie als Anastasia Manahan oder Anna Anderson. Dazwischen lag ein tragisches Leben, in dem sie zu zweifelhaftem Ruhm gekommen war: Anfang der 20er-Jahre, als sie nach einem Selbstmordversuch in eine Berliner Nervenheilanstalt gekommen war, behauptete Czenstkowski, die Zarentochter Anastasia zu sein, die als Einzige der Ermordung durch die Bolschewiki entkommen sei.

In den 60er Jahren lebt Czenstkowski zwischen Müllbergen in einer Hütte - und wird von Gleb Botkin gerettet, der sie in die USA bringt.

In den 60er Jahren lebt Czenstkowski zwischen Müllbergen in einer Hütte - und wird von Gleb Botkin gerettet, der sie in die USA bringt.

(Foto: Simon Schwartz / Avant-Verlag 2018)

Sie trat damit einen Mythos los, der bis heute, 100 Jahre nach dem Ende der Romanows, anhält und immer wieder künstlerische Werke inspiriert. Dabei ist zweifelsfrei geklärt, dass Czenstkowski keine Zarentochter war. Unklar ist dagegen, wie sie auf die Idee kam, sich als Großfürstin Anastasia Nikolajewna Romanowa auszugeben. War es ihre eigene Inszenierung? Wurde sie von anderen in diese Rolle gedrängt? Oder war sie aufgrund einer psychischen Erkrankung tatsächlich davon überzeugt, die Zarentochter zu sein?

Eindeutig lässt sich das nicht sagen, obwohl der Fall der falschen Anastasia ganz gut dokumentiert ist, wie Simon Schwartz sagt, der sich für seinen Comic "Ikon" (Leseprobe) eingehend mit den historischen Umständen und dem Hype um Czenstkowski beschäftigt hat. "Der Fall ging in den 1920er-Jahren und dann nochmal in den 1950er-Jahren massiv durch die Boulevardpresse", erklärt der Zeichner im Gespräch mit n-tv.de. "Es ist so ein bisschen einer der ersten Fake-News-Fälle." Die Geschichte sei einfach zu gut gewesen, so Schwartz. "Zudem hat nach dem Ersten Weltkrieg offensichtlich der Wunsch geherrscht, dass etwas von der alten Zeit überlebt hat." Schließlich wurden damals nicht nur die Romanows vom Thron gefegt.

Als Kinder entwickeln die echte Anastasia und Gleb Botkin ein besonderes Verhältnis zueinander.

Als Kinder entwickeln die echte Anastasia und Gleb Botkin ein besonderes Verhältnis zueinander.

(Foto: Simon Schwartz / Avant-Verlag 2018)

So erklärt sich Schwartz auch, dass es Menschen gab, die an die Hochstaplerin glaubten, obwohl sie es hätten besser wissen müssen, denn Czenstkowskis wahre Identität war schon nach wenigen Wochen geklärt. "Der popkulturelle Aspekt von Anastasia ist erst durch diese Hochstaplerin und ihre Anhänger entstanden", sagt Schwartz. Erst dadurch sei die eigentlich unbedeutende Zarentochter Anastasia zu einer Märchenprinzessin verklärt worden, deren Geschichte von Hollywood verfilmt und von Disney zu einem Musical gemacht wurde.

Anastasia und Aphrodite-Kult

Einer der Anhänger der falschen Anastasia war Gleb Botkin, der zweite Protagonist in "Ikon". Der Sohn des Leibarztes des Zaren wuchs mit der echten Anastasia auf und entwickelte eine vertrauliche Beziehung zu ihr. Anders als die Zarenfamilie und sein Vater überlebte er knapp deren Ermordung und floh über mehrere Stationen in die USA, wo er sich als Illustrator versuchte, mehrere Bücher verfasste und einen neuheidnischen, esoterischen Aphrodite-Kult begründete.

Auf der Flucht erscheint Gleb Botkin die Göttin Aphrodite - in Gestalt von Anastasia.

Auf der Flucht erscheint Gleb Botkin die Göttin Aphrodite - in Gestalt von Anastasia.

(Foto: Simon Schwartz / Avant-Verlag 2018)

Als Botkin von der angeblichen Anastasia hörte, besuchte er sie bei einem Aufenthalt in New York in den 20ern und war fortan überzeugt, Czenstkowski sei tatsächlich die Zarentochter. Er unterstützte sie, holte sie später sogar nach Amerika, kam jedoch mit ihrem schwierigen Charakter nicht zurecht. "Er ist auf jeden Fall eine tragische Persönlichkeit", sagt Schwartz. Seine Welt sei durch die russische Revolution völlig zerrüttet worden. "Mit dieser ganzen Anastasia-Geschichte hat er versucht, die vorrevolutionäre Welt für sich zu erhalten."

In "Ikon" verfällt Botkin geradezu der falschen Anastasia. Sie wird für ihn zur Projektion, zur Ikone. Womit Schwartz die Geschichte dieser beiden tragischen Figuren auf eine weitere Ebene hebt: Auf mehreren Doppelseiten, die er zwischen die Kapitel schiebt, erklärt der Zeichner, wie die Ikonenmalerei entstand, wie die Bilder gemalt werden und welche Bedeutung die Gemälde in den orthodoxen Kirchen haben. Er zieht eine Parallele zwischen den religiösen Bildern, die für das Göttliche stehen, und der Verehrung der falschen Anastasia, in die ihre Anhänger ganz eigene Wünsche und Sehnsüchte projizieren.

Der Comic endet mit einer dreifachen Parallelmontage, die die drei Zeitebenen verbindet.

Der Comic endet mit einer dreifachen Parallelmontage, die die drei Zeitebenen verbindet.

(Foto: Simon Schwartz / Avant-Verlag 2018)

Zu den gebrochenen Hauptfiguren des Comics passt auch die erzählerische Struktur, die zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her springt, bevor diese in einem grandiosen Finale parallel montiert werden. Indem Schwartz die Lebensgeschichten von Botkin und Czenstkowski nebeneinanderstellt, immer wieder zwischen ihnen wechselt, veranschaulicht er, wie beide durch traumatische Erlebnisse geprägt wurden und ihren Halt verloren. Auch wenn sich der Zeichner dabei ein paar künstlerische Freiheiten herausnimmt und einige Aspekte verdichtet - "Ich bin kein Historiker, ich mache kein Geschichtsbuch", sagt er -, entsteht ein eindringliches Porträt zweier Menschen, die an der Gewalt des 20. Jahrhunderts zerbrechen. Es zeugt von Mut, dass Schwartz dabei den Lesern einen echten Sympathieträger vorenthält.

Starker Einfluss des Expressionismus

Für die Darstellung dieser zerstörten Leben hat Schwartz einen schroffen, kantigen Schwarz-Weiß-Stil gewählt. Er geht damit über die Zeichnungen seines letzten großen Werkes "Packeis" hinaus, die er im Rückblick als zu brav einschätzt. "Mir war klar, ich brauche einen raueren, ich brauche einen gröberen Stil, einen teilweise skizzenhafteren." Entsprechend hat er auch experimentiert. Einige Zeichnungen habe er mit einer Rasierklinge nachträglich zerstört oder Farbe auf ihnen verspritzt, erklärt er. "Das war ein Prozess. Aber ich fühle mich mit meinen Zeichnungen jetzt aktuell tatsächlich viel, viel wohler und angekommener."

"Ikon" ist bei Avant erschienen, 216 Seiten, Softcover, 25 Euro. Ein limitiertes Hardcover mit signiertem Druck kostet 50 Euro.

"Ikon" ist bei Avant erschienen, 216 Seiten, Softcover, 25 Euro. Ein limitiertes Hardcover mit signiertem Druck kostet 50 Euro.

Mit scharfen Kontrasten sowie dem Einsatz von Schatten und Verzerrungen hat vor allem eine Stilrichtung ihre Spuren hinterlassen: "Der ganze deutsche Expressionismus ist schon immer ein großer Einfluss auf mich gewesen", sagt Schwartz. Entsprechend finden sich im Buch Anspielungen auf "Metropolis" und "Das Cabinet des Dr. Caligari", zwei Schlüsselwerke des expressionistischen Films. Wobei der Zeichner noch andere popkulturelle Verweise unterbringt, etwa auf den "Anastasia"-Film mit Ingrid Bergman oder auf "Der Mann, der Liberty Valance erschoss" und "F wie Fake", zwei Filme, die sich mit Wahrheit und Betrug auseinandersetzen.

Schwartz verweist aber auch darauf, dass man mit expressionistischen Mitteln wie falschen Perspektiven und übertriebenen Proportionen Emotionen besser darstellen könne als mit realistischen Zeichnungen. Spürt man anfangs in den eher weichen, geschwungenen Figurenzeichnungen noch klar den Einfluss des Comichefts "Mosaik", für das Schwartz einst arbeitete, weisen die Gesichter im Lauf der Geschichte, mit zunehmendem Wahnsinn, immer groteskere Züge auf, bis hin zum geradezu surrealistischen Finale.

Mit "Ikon" geht Schwartz künstlerisch nochmals einen Schritt weiter. Vor allem seine Bilder sind radikaler und gereifter als früher. Aber auch erzählerisch wagt er mit der verschachtelten Geschichte mehr. Die permanenten Zeitsprünge mögen den Lesefluss unterbrechen, sie spiegeln aber auch das Gefühl von Verlust, das beide Protagonisten durchleben. Zum Glück aber hat Schwartz durch diese künstlerische Entwicklung nicht sein Gespür für skurril-tragische Geschichten verloren. Er schafft es sogar, der allseits bekannten Räuberpistole um die angebliche Zarentochter neue Aspekte abzugewinnen.

In der deutschen Comiclandschaft jedenfalls hat sich Schwartz längst etabliert, auch wenn er sich thematisch immer wieder auf ähnlichem, historischem Gebiet bewegt: in seinem Debüt "Drüben!" über die Ausreise seiner Eltern aus der DDR, in "Packeis" über den Nordpol-Forscher Matthew Henson, in der bunten Comicstrip-Sammlung "Vita Obscura" und zuletzt auch in einer Ausstellung des Bundestags über deutsche Parlamentarier - wo er als erster Comiczeichner überhaupt seine Werke präsentierte. Einen umfangreichen Überblick über Schwartz' Schaffen bietet ab kommender Woche das Angermuseum in seiner Geburtsstadt Erfurt, das den 35-Jährigen mit einer Werkschau ehrt.

"Ikon" bei Amazon bestellen. Das Buch ist auch als limitierte Luxusausgabe erschienen. Mehr Infos zur Werkschau im Angermuseum Erfurt gibt es hier. Zur Ausstellung erscheint bei Avant ein Katalog.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen