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"Es ist ein toller Krieg" Wie Clara S. den Nazis verfiel

Claras schönste Zeit: mit einer Kollegin in Deutsch-Krone um 1941. Am Revers trägt sie das goldene HJ-Abzeichen.

Claras schönste Zeit: mit einer Kollegin in Deutsch-Krone um 1941. Am Revers trägt sie das goldene HJ-Abzeichen.

(Foto: Wiborg / Verlag Antje Kunstmann)

Im April 1945 rückt die Rote Armee unaufhaltsam auf Stettin vor. Die BDM-Führerin Clara ist dort eingeschlossen und trotzdem bester Laune. Sie glaubt fest an den Endsieg und feiert die Nächte durch - bevor sie am Ende spurlos verschwindet.

"Es war eine prächtige Stimmung", schreibt Clara S. in den letzten Kriegswochen 1945 aus dem belagerten Stettin an ihr "Muttilein". "Drüben hörten wir Iwan krakeelen und fuhren mit entsicherter Maschinenpistole. Aber er tut uns nichts, und das Wasser ist ja breit genug. Wenn nicht irgendwo eine Schweinerei passiert, wird er nun hier und bei uns gehalten. Es ist ein toller Krieg!"

Die deutsche Wehrmacht hat Stettin bereits aufgegeben, die Rote Armee steht kurz davor, die Oder zu überqueren. Clara ist eine der letzten ranghohen BDM-Führerinnen, die in der pommerschen Stadt ausharren. Sie ist bester Laune, glaubt fest an den Endsieg und daran, schon bald das "Vierte Reich" mit aufbauen zu dürfen. Wenige Wochen später verliert sich die Spur der 24-Jährigen auf Rügen - Zeugen zufolge in einer Höhle, aus der Schreie und Schüsse zu hören sind.

"Du machst Oma traurig"

Zeittypisches Porträt: Clara als "Muster arischer Schönheit". Rötelskizze von Lieselotte Endres-Wagner, Kolberg 1944.

Zeittypisches Porträt: Clara als "Muster arischer Schönheit". Rötelskizze von Lieselotte Endres-Wagner, Kolberg 1944.

(Foto: Wiborg / Verlag Antje Kunstmann)

Ein Porträt von Clara hängt Jahrzehnte später bei der Großmutter von Susanne und Jan Peter Wiborg in der Küche. Das Mädchen, das seinen Blick in die Ferne richtet, ist den Geschwistern unheimlich. Sie erfahren, dass es sich um ihre Tante handelt, die im Krieg angeblich von den Russen umgebracht wurde. Weitere Nachfragen werden mit dem Hinweis "du machst Oma traurig" unterbunden.

Die Tante gerät in Vergessenheit. Bis in dem Erbe der Großmutter ein Stapel mit Feldpostbriefen auftaucht, die Clara zwischen Mitte Januar und Ende März 1945 verfasst hat. Die Neugier der Wiborg-Geschwister ist geweckt. Wie genau starb Clara? Was bewegte die junge Frau dazu, bis zum bitteren Ende an den NS-Wahn zu glauben? Die Ergebnisse ihrer 15-jährigen Recherche haben die Historiker in ihrem packend geschriebenen Buch "Glaube, Führer, Hoffnung. Der Untergang der Clara S." festgehalten.

Clara kommt 1920 als erstes Kind einer kleinbürgerlichen, nationalistisch eingestellten Familie im früheren Cammin in Hinterpommern auf die Welt. Früh lernt sie, was es heißt, als Mädchen immer ihrem jüngeren Bruder den Vortritt lassen zu müssen. Die Mädchenrolle engt sie schon bald ein. Sie will etwas aus sich machen und nicht - wie die Frauengenerationen vor ihr - ihre Tage ausschließlich mit Kindererziehung, Häkeln und Kartoffeln schälen füllen. Der Nationalsozialismus scheint Clara diese Chance zu bieten.

Absolute Verblendung

Mit zwölf Jahren tritt sie dem Bund Deutscher Mädel bei und wird 1939 hauptamtliche BDM-Führerin. "Dankbar bin ich dem Geschick, das auch uns - Frauen - dieses Dasein erlaubt", notiert sie in einem ihrer Briefe. Dass das Wort Gleichberechtigung im nationalsozialistischen Wortschatz nicht vorkommt, realisiert sie nicht. Clara glaubt, beim BDM endlich gefunden zu haben, wonach sie immer gesucht hat: eine Aufgabe, ein "heroisches" Leben für "die Sache".

Das Buch ist bei Antje Kunstmann erschienen, hat 320 Seiten und kostet 19,95 Euro.

Das Buch ist bei Antje Kunstmann erschienen, hat 320 Seiten und kostet 19,95 Euro.

Genauso stetig, wie Clara die Karriereleiter der NS-Organisation hinaufklettert, steigert sich auch ihre Verblendung. Nichts kann ihren Glauben an die Überlegenheit der Nazis erschüttern. Für sie sind die bevorstehenden Kämpfe um die "Festung Stettin" ein "Zauber". Selbst als ihr geliebter Bruder als Pilot bei einem Lufteinsatz getötet wird, hält Clara an ihren braunen Idealen fest: "Auch wenn es nun ganz Ostpommern kosten soll. Um uns und unsere Liebsten geht es ja nicht, sondern um das Reich."

Während nur wenige Kilometer von Stettin entfernt die Menschen elendig sterben, lebt sie zusammen mit der HJ-Führung Pommerns in einem dekadenten Paralleluniversum: "Ach Muttilein, es ist ein Leben wie es Fürsten führen. Mir ist im Moment restlos nebelig zu Sinnen, weil wir z. B. die letzten drei Nächte durchgefeiert haben. Aber mit Stil und Eleganz. Kaminfeuer, Musik, Geist und edelste Tropfen. So hatte ich mir das alles einmal geträumt."

Götterdämmerungs-Euphorie und Liebeswahn

Aber nicht nur die Endzeitorgien machen Clara duselig. Auch der verheiratete SA-Mann Karl, der sie erst schnöde abserviert, um dann doch immer wieder in ihrem Leben aufzutauchen, verdreht ihr den Kopf. Als Stettin Ende April 1945 fällt, flieht Clara zusammen mit ihm und der Gauleitung Pommerns nach Rügen. Auf dem Weg dorthin stattet sie ihrer Familie einen letzten Besuch ab - gehüllt in ein festliches Kleid aus königsblauem Samt.

Es sind teils bizarre Szenen zwischen brauner Götterdämmerungs-Euphorie und Liebeswahn, die Susanne und Jan Peter Wiborg schildern. Auch wenn sich die Autoren bewusst sind, dass die Bannmädelführerin ein Extremfall ist, kommen sie am Ende zu dem Fazit: "Mit der jungen Clara stand uns nicht etwa die nächste irgendwo ausgegrabene 'braune Tante' gegenüber - für uns vielleicht interessant, für andere aber belanglos. Im Gegenteil: Sie ist ein Prototyp." Denn durch die vielen Claras überall in Deutschland konnte das NS-System erst funktionieren. Und so bietet das Buch - mal auf Fakten gestützt, mal spekulierend - einen verstörenden und spannenden Einblick in die weibliche Seite des Fanatismus.

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Quelle: ntv.de

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