"Manchester by the Sea" Leiser, alter Schmerz
18.01.2017, 19:48 Uhr
Casey Affleck und Lucas Hedges in "Manchester by the Sea".
(Foto: Claire Folger/Amazon Studios)
Traumata kann man verdrängen, aber kann man sie auch hinter sich lassen? Ein Todesfall in der Familie reißt im Film "Manchester by the Sea" alte Wunden auf. Sie lassen sich nicht mit Schweigen heilen.
Vermutlich ist es der völlig falsche Ansatz, bei der Besprechung eines Oscar-Anwärters zunächst mal über die Klamotten zu schreiben - vor allem, da es sich doch nicht um einen Kostümfilm handelt. Aber vielleicht muss man das Nervigste an "Manchester by the Sea" trotzdem zu Beginn erwähnen: Es sind gefühlte 37 Carhatt-Logos zu viel, die den Zuschauer da von der Leinwand anspringen. Abgesehen davon ist der neue Film von Regisseur Kenneth Lonergan ziemlich herausragend.
"Manchester by the Sea" erzählt von einem Teenager, der seinen Vater verliert, und von seinem Onkel, der nun Vater spielen soll. Patrick (Lucas Hedges) hat eine Band und zwei Freundinnen gleichzeitig, Lee (Casey Affleck) eine winzige Wohnung im Souterrain und einen Job als Hausmeister. Die Leben der Männer passen also erst einmal nicht so recht zusammen.
Über Probleme spricht man nicht
Regisseur Lonergan zeigt eine Familientragödie - allerdings eine andere, als der unvorbereitete Kinobesucher erwarten wird. Ja, Patricks Vater ist gestorben. Aber er hat vorgesorgt. Seine Hinterbliebenen sind finanziell abgesichert, können auf die Unterstützung von Freunden und Nachbarn zählen. Rückblenden eröffnen erst nach und nach, weshalb Lee dennoch keine Verantwortung für seinen Neffen übernehmen kann.

Michelle Williams spielt Lees Ex-Frau. Auch sie kann kaum zu ihm durchdringen.
(Foto: Claire Folger/Amazon Studios)
In Manchester, einer Stadt in der Nähe von Boston im Nordosten der USA, herrscht ein rauer Wind. Wenn die Köpfe den Protagonisten zwischen die Schultern sacken, dann schützen sie sich nicht nur vor der Kälte. Die Figuren sind Verdränger. Über Probleme spricht man nicht, man trinkt, man schlägt. Dass ihr Verhältnis zu Frauen ein schwieriges zu sein scheint - geschenkt.
Die Natur der Tragödie
"Manchester by the Sea" drückt nicht auf die Tränendrüse. Affleck, Hedges und der Rest des Casts spielen mehr als Trauer, ihr Emotionsspektrum umfasst Wut und Enttäuschung und Verzweiflung und Angst. Das rückt die Konflikte der Protagonisten in einer Weise ans Publikum heran, die echte Empathie erlaubt - obwohl die Bewältigungsstrategien der Hauptfiguren mehr als zu wünschen übrig lassen.
Patrick und Lee sind gezeichnet von Tod und Verlust. Wenn sie dann doch einmal den Mund aufmachen, spricht aus ihnen die Hoffnung auf Erlösung. Und doch lässt "Manchester by the Sea" den Zuschauer ratlos zurück. Vielleicht weil es in der Natur der Tragödie liegt, dass sie keinen Ausweg bietet. Die Handlung hätte an dieser Stelle noch Potenzial gehabt. Das Gefühl, das ihre Lückenhaftigkeit hinterlässt, ist überwältigend
"Manchester by the Sea" startet am 19. Januar in den deutschen Kinos.
Quelle: ntv.de