Giftspinnen? Her damit! Frau lebt ohne Angst
17.12.2010, 10:41 UhrStellen Sie sich vor, sie könnten keine Furcht empfinden. Nicht in Geisterbahnen, nicht bei Horrorfilmen, nicht vor giftigen Tieren. Und auch dann nicht, wenn Sie in Lebensgefahr sind. In den USA lebt eine Frau, der es genau so geht - ihr Angstzentrum im Gehirn ist defekt. Erstmals haben Wissenschaftler sie nun in einem Fachartikel beschrieben.

Die berühmte Dusch-Szene aus Alfred Hitchcocks "Psycho": Die sogenannte Amygdala sorgt dafür, dass wir uns bei solchen Szenen gruseln.
(Foto: picture-alliance / dpa/dpaweb)
Eine Frau mit schwer geschädigtem Angstzentrum im Hirn spürt keine Angst. Sie möchte stattdessen aus Neugier gerne giftige Schlangen und Spinnen streicheln und kennt auch in einer Geisterbahn keine Sorgen. Und selbst wenn ihr Leben tatsächlich und unmittelbar bedroht ist – wie in der Vergangenheit durch einen Fall häuslicher Gewalt – empfindet sie keine Furcht. Ein Team um Justin Feinstein von der University of Iowa beschreibt die 44-Jährige unter dem Namenskürzel "SM" nun ausführlich im Journal "Current Biology".
Das Angstzentrum, die sogenannte Amygdala, wird auch Mandelkern genannt. Die Struktur ist paarig ausgebildet und findet sich in den Tiefen des Hirns. Bei der Frau ist sie stark geschädigt und ausgefallen. Erstmals sei ihr Verhalten nun über längere Zeit erforscht worden, schreibt das Team. Die Resultate zeigen einmal mehr, dass die Amygdala die Zentralstelle der Angstverarbeitung ist.
Forscher wollten Furcht provozieren
"Zu sagen, SM ist ohne Emotionen oder unfähig, solche zu fühlen, ist schlichtweg falsch", erklären die Forscher außerdem. Zu vielen anderen Gefühlen ist die Frau fähig. Sie schneidet in anderen Verhaltens- und Intelligenztests normal ab, ihr neuropsychologisches Profil ist seit 20 Jahren stabil, notieren Feinstein und seine Helfer zudem. Sie erkennt aber keine angstvollen Reaktionen in den Gesichtern der Menschen, die ihr gegenüberstehen, und reagiert auch nicht entsprechend. Die Forscher setzten sie nun gezielt Situationen aus, die bei anderen Menschen Angst auslösen: dem Besuch eines Zoogeschäftes mit giftigen Spinnen und Schlangen, dem Besuch einer Geisterbahn und dem Ansehen furchterregender Filmausschnitte.
Im Geschäft steuerte sie sogleich die breite Auswahl an Schlangen an und nahm ein ungiftiges Reptil auch bereitwillig in die Hand. SM äußerte aber den Wunsch, auch größere und giftige Schlangen anzufassen, obwohl der Angestellte des Zooladens sie ausdrücklich davor warnte. Die Frau fragte stattdessen 15 Mal danach, ob sie nicht Kontakt zu Giftschlangen oder einer Tarantel haben könnte. Auf die Frage, warum sie gefährliche Tiere berühren wollte, antwortete sie: Neugier. Später stellte sich heraus, dass SM zuvor in der Natur einer großen Schlange begegnet war – und sich ebenfalls ihr neugierig genähert hatte.
Auch bei Lebensgefahr: Keine Spur von Angst
Im zweiten Teil des Versuches unternahm das Team einen Ausflug ins Waverly Hills Sanatorium in Louisville (US-Staat Kentucky). Das ehemalige Sanatorium, in dem einst viele Patienten starben und durch einen unterirdischen Tunnel abtransportiert wurden, gilt als ein besonders gruseliger Ort, der heute entsprechend vermarktet wird. Berichtet wurde bereits über Geister und merkwürdige Ausschläge von Messgeräten. Das Gemäuer – und einige darin "versteckte" Geister – erschreckten aber nur die Forscher, nicht SM. Sie ging freundlich auf die "Erscheinungen" zu, lachte und versuchte, mit ihnen zu reden. Auch bei den Filmausschnitten war bei ihr von Angst keine Spur.
Damit nicht genug. In einem Akt häuslicher Gewalt war bereits einmal das Leben von SM in Gefahr, aber selbst diese Erfahrung löste keine der erwarteten Reaktionen aus, wie eine ausführliche Befragung und die Analyse der Polizeiakten von damals ergab. Die Frau lebt in einer armen Gegend, in der Gewalt, Drogen und andere Gefahren an der Tagesordnung sind. Ihr Mangel an Angst habe schon oft dazu geführt, dass die damit verbundenen Bedrohungen nicht wahrgenommen habe.
Mehr noch: Womöglich ist SM gar immun gegen einen oft bei Soldaten beobachteten Zustand, die posttraumatische Belastungsstörung. Diese Beobachtung deckte sich mit ähnlichen bei Kriegsveteranen mit beschädigter Amygdala.
Quelle: ntv.de, dpa