Erdbeben, Tsunami, Super-GAU Wie viel Leid erträgt die Psyche?
18.03.2011, 11:44 Uhr
Ein Mann weint an den Trümmern seines Hauses in Onagawa, indem seine Mutter zu Tode kam.
(Foto: REUTERS)
Erdbeben, Tsunami, Super-GAU im Atomkraftwerk Fukushima. Die Menschen in Japan mussten in der vergangenen Woche gleich drei Katastrophen verkraften und sind in dieser Situation unglaublich diszipliniert. Wie die menschliche Psyche mit solchen traumatischen Ereignissen umgeht, erklärt Dr. Ulrike Schmidt, Leiterin der Trauma-Ambulanz des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München, im Gespräch mit n-tv.de.
n-tv.de: Was passiert psychisch mit Menschen nach solchen Katastrophen wie in Japan?

Überlebende gedenken während einer Schweigeminute in einer Notunterkunft in Fukushima der Opfer des Tsunamis.
(Foto: AP)
Ulrike Schmidt: Bei direkt betroffenen Menschen setzt eine Schockreaktion ein, die einerseits schrecklich ist, andererseits aber auch die Psyche des Menschen im Sinne eines Anpassungsprozesses schützen kann. Solche Schockreaktionen setzen im Körper eine Reihe von Veränderungen in Gang. Diese können unter anderem hormoneller Art als auch psychischer Natur sein. Schockerlebnisse können sogar die Mikrostruktur des Gehirns nachhaltig verändern, wobei es sich dabei nicht zwangsläufig um krankhafte Veränderungen handeln muss. Eine Schockreaktion ist quasi ein Bewältigungsmechanismus, der helfen kann, solche schrecklichen Momente auszuhalten. Bei Menschen mit einer entsprechenden Veranlagung kann dieser Schock aber auch in psychische Erkrankungen, wie beispielsweise in einer sogenannten Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) münden.
Wie machen sich solche Schockreaktionen bemerkbar?
Eine der unwillkürlichen Bewältigungsstrategien des traumatischen Schocks ist die sogenannte Dissoziation. Das bedeutet, der Mensch löst sich unbewusst innerlich von der gegenwärtigen Situation, sodass er seine Umgebung nicht mehr so intensiv wahrnimmt - man nennt dies auch Bewusstseinsverschiebung. Die Person ist nicht mehr so präsent wie sonst. Der überwiegende Anteil der Betroffenen bleibt während solcher Dissoziationsphasen handlungsfähig. Dissoziation kann dazu führen, dass die Erinnerung der traumatischen Momente beeinträchtigt oder sogar gelöscht wird. Bei Menschen mit PTBS können Dissoziationszustände auch noch viel später und wiederholt im Sinne eines Krankheitssymptoms auftreten- manche PTBS-Patienten dissoziieren unwillkürlich, sobald sie an das traumatische Erlebnis erinnert werden, weil alleine der Gedanke an die schrecklichsten Momente unerträglich ist. Schockzustände können sich in unterschiedlicher Art äußern - manche Menschen erstarren und kauern bewegungslos am Boden, andere wiederum sind so aufgewühlt, dass sie nicht aufhören können, umherzulaufen und zu schreien. Die Mehrheit dieser reflexartig einsetzenden Schockreaktionen kann man nicht steuern. Sie werden vom Körper als Schutzreaktion kreiert.
Was ist denn für die direkt Betroffenen Menschen in Japan zu diesem Zeitpunkt das Wichtigste?

Sicherung der existenziellen Bedürfnisse, am besten in der Gemeinschaft, ist die Basis in dieser Situation.
(Foto: dpa)
An erster Stelle kommt die existentielle Sicherung der Betroffenen. Das bedeutet, die Menschen müssen es warm haben, es müssen genügend Nahrungsmittel und Trinkwasser zur Verfügung stehen und sie sollten basale hygienische Umstände, also zumindest funktionierende Toiletten vorfinden. Gleich danach ist die soziale Bindung zu nennen. Das heißt, Menschen, die ihre Lebensgrundlagen und vielleicht auch noch Angehörige verloren haben, dürfen in dieser Situation nicht allein sein. Sie sollten Ansprechpartner haben. Ganz wichtig ist auch, dass diese Ansprechpartner nicht so häufig wechseln. Es geht also um klassische Bezugspersonen oder eine Gruppe von Menschen, die in solchen Ausnahmesituationen eine soziale Konstante darstellen.
Müssen die Bezugspersonen speziell ausgebildet sein?
Das wäre ideal, ist nicht unbedingt erforderlich. Ganz oft entstehen nach Naturkatastrophen von diesem Ausmaß in Notunterkünften ganz von selbst soziale Gemeinschaften der Betroffenen. Die Helfer vor Ort sollten auch hier unbedingt darauf achten, dass diese sozialen Gemeinschaften nach Verlegungen aus Notunterkünften o.ä. die Möglichkeit haben, einander zu kontaktieren um so die in der Krisensituation neu geknüpften Bindungen aufrechterhalten zu können, denn soziale Stabilität ist in Krisensituationen ganz wichtig. Das Gemeinschaftsgefühl der Betroffenen auf der Grundlage des gleichen Schicksals bildet eine gute Basis für die psychische Verarbeitung der Geschehnisse.
Das Gemeinschaftsgefühl kann tatsächlich zur psychischen Bewältigung beitragen?

Japaner stellen sich nach dem Tsunami an einer Tankstelle an, um Treibstoff zu kaufen.
(Foto: REUTERS)
Ja, denn es gibt den Menschen das Gefühl, das sie nicht allein sind in ihrer Situation und dass nicht nur ihnen so Schreckliches widerfahren ist, sondern dass es Menschen gibt, die ihre Gefühle verstehen und dass man gemeinsam nach Problemlösungsstrategien suchen kann. Durch das Gemeinschaftsgefühl entsteht die Möglichkeit, sich mit Menschen auszutauschen, denen ähnliches passiert ist. Das ist tröstend und schafft eine Ebene der Empathie. Soziale Kontakte und Bindungen können die Betroffenen erheblich stärken.
Wenn so viele Menschen wie in Japan von Katastrophen betroffen sind, kann dann ein kollektives Trauma entstehen?
Zunächst einmal müsste man sich über den Begriff kollektives Trauma einigen. Wenn der Begriff so definiert ist, dass sich durch ein schreckliches Ereignis eine große Menschenmenge nachhaltig psychisch verändert oder sogar eine ganze Kultur verändert, dann ist das kollektive Trauma in Japan möglich. Dieser kollektive Schock kann allerdings auch positive Auswirkungen im Sinne eines sogenannten Posttraumatischen Wachstums haben - beispielsweise kann dieses Erlebnis die Menschen enger zusammenschweißen und aus diesem Gefühl kann viel neue Kraft erwachsen. In jedem Falle werden die Ereignisse in Japan gravierende Veränderungen in diesem Land mit sich bringen. Wie man diese benennt, ist dann eine Frage der Begriffsklärung.
Die Unterschiede in der Verarbeitung von traumatisierenden Ereignissen sind bei Menschen gravierend. Gibt es Untersuchungen, woran das liegt?
Ja. Erst einmal gibt es biologische Voraussetzungen, die individuell verschieden sind. Nicht jeder Mensch bekommt eine Depression oder Gallensteine. Diese Voraussetzungen sind auch bei den Traumafolge-Erkrankungen entscheidend. Jeder von uns hätte zwar als direkt Betroffener in Japan einen Schock in unterschiedlicher Ausprägung bekommen, aber eine Posttraumatische Belastungsstörung bekommen nur wenige. Das liegt nicht nur an der Qualität oder Intensität des Erlebten, sondern vor allem an unterschiedlichen neurobiologischen Voraussetzungen, zum Beispiel daran wie viele Stresshormone, welcher Art und in welchem Zeitraum ausgeschüttet werden.
Gibt es noch andere Bedingungen außerhalb des Körpers?
Ja, Menschen, die beispielsweise aus einer intakten Primärfamilie kommen und eine Kindheit ohne traumatische Erlebnisse hatten, die sozusagen in einem starken sozialen Umfeld aufgewachsen sind, entwickeln wesentlich seltener eine PTBS als Menschen, in deren Lebensgeschichte wenig tragbare soziale Bindungen, sondern stattdessen traumatische Situationen wie beispielsweise Gewalterlebnisse oder Vernachlässigung zu finden sind. Auch Menschen, die beispielsweise vor den traumatisierenden Ereignissen Depressionen oder andere psychische Erkrankungen hatten, erkranken häufiger an einer PTBS.
Kann man sich vor einer Traumatisierung schützen und die eigene psychische Konstitution für den Ernstfall, zum Beispiel durch Entspannungstechniken stärken?
Man weiß noch zu wenig über die neurobiologischen Grundlagen des Schockzustands und der PTBS, als dass man diese Frage eindeutig beantworten könnte. Man kann jedoch auf jeden Fall durch Entspannungstechniken die Auswirkungen des Stresses eindämmen. Es wurde nachgewiesen, dass durch effiziente Entspannungsverfahren der Stresshormonhaushalt positiv beeinflusst werden kann. Man kann sich vorstellen, dass bei schlimmen Ereignissen das Stresshormonsystem des Körpers verrücktspielt, unter anderem kommt es dabei über einen ungewöhnlich langen Zeitraum zu einem enormen Adrenalinausstoß. In der Folge kann man kaum noch schlafen oder essen und ist die ganze Zeitaufgeregt, quasi innerlich auf der Flucht. Viele Menschen, die sich durch Entspannungstechniken selbst trainiert haben, zur Ruhe zu kommen, können sich auch in solchen brenzligen Situationen besser beruhigen und zumindest etwas gelassener sein.
Die Menschen in Japan sind trotz der angespannten Situation sehr diszipliniert. Woran liegt das?
Psychische Bewältigungsmechanismen unterscheiden sich tatsächlich in verschiedenen Kulturen, was vor allem auf unterschiedlichen Erziehungsstilen beruht. Die Kinder in Japan werden ihre Eltern in Krisensituationen im Durchschnitt anders erleben als beispielsweise die Kinder in Ländern, bei denen zur Krisenbewältigung die Äußerung und das Ausleben von Gefühlen üblich sind. Wenn vorgelebte Verhaltensweisen auf Disziplin abzielen und Kinder beispielsweise schon früh für Disziplin belohnt werden, dann setzt sich diese Verhaltensweise durch.
Mit Ulrike Schmidt sprach Jana Zeh
Quelle: ntv.de