Frage & Antwort, Nr. 351 Wie entsteht ein Kaventsmann?
04.11.2014, 09:54 Uhr
Surfer versuchen sich an der portugiesischen Atlantikküste auf Wellen von mehr als 20 Metern Höhe.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Ich habe gehört, dass Kaventsmänner in der Seemannssprache riesige, gefürchtete Wellen sind. Und offenbar hielt man sie lange für Seemannsgarn. Wie kommt es eigentlich zu solchen Wellen? (fragt Ruben L. aus Eppingen)
Wenn Kapitäne von Kaventsmännern erzählen, dann weiß man, es ging womöglich um Leben und Tod. In der Seemannssprache ist ein Kaventsmann stets eine Monsterwelle; eine Welle also, die die Höhe des normalen Seegangs drumherum um das Doppelte oder mehr übersteigt. Und das bedeutet: eine Welle, die jedem Schiff, auch den Ozeanriesen, sehr gefährlich werden kann. 30 Meter hoch kann sie sein – oder höher.
Es gibt verschiedene Arten von Monsterwellen, der Kaventsmann ist eine davon. Diese Welle ist nicht nur bedrohlich groß, sondern auch schnell und sie folgt nicht der Richtung des vorherrschenden Seegangs. Es können aber auch die Drei Schwestern sein, die auf die Seemänner zukommen. Das sind drei (oder vielleicht auch zwei, vier oder fünf) schnell aufeinanderfolgende Riesenwellen. Hat ein Schiff den ersten Wellenberg genommen, sodass es mit dem Bug ins Wellental gleitet, kann es von dort kaum schnell genug den nächsten Berg erklimmen. Die Folge: Von der zweiten, spätestens von der dritten "Schwester" wird das Schiff überrollt. Die dritte Art der Monsterwellen – mehr sind bislang nicht bekannt – trägt den Namen Weiße Wand. Sie ist eine gigantische, sehr steile und damit wandartige Woge, von deren Kamm Gischt herabsprüht; das lässt sie weiß erscheinen. Ihr folgt ein besonders tiefes Wellental. Eine "Weiße Wand" kann mehr als zehn Kilometer breit sein.
Jede Woche gehen zwei Schiffe verloren
Wie sich diese Ungetüme auf dem Meer entwickeln können, ist noch nicht ganz klar. Tatsächlich galten 30 Meter hohe Wellen noch bis 1995 als Seemannsgarn. Die gängige Theorie der Wellenentstehung schloss es aus, dass Wellen über eine Höhe von 15 Metern hinauswachsen können. Inzwischen aber ist man schlauer und die Seefahrer, die von Monsterwellen berichtet haben, sind rehabilitiert. Ihre Darstellungen sind glaubwürdig. Neujahr 1995 nämlich wurde eine Gasplattform in der Nordsee von einer 26 Meter hohen Welle getroffen; die umgebenden Wogen hatten trotz Sturm nur 12 Meter erreicht. Eine automatische Wellenmessanlage meldete das Geschehen. Es war das erste Mal, dass eine Monsterwelle dokumentiert werden konnte.
Mittlerweile haben Satellitenmessungen und Beobachtungen an Offshore-Plattformen gezeigt, dass zwei- bis dreimal pro Woche auf einem der Weltmeere eine solche Riesenwelle entsteht. Das Earth Observation Center des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) stellte 2012 fest, dass in den vergangenen Jahren rund zwei Schiffe pro Woche weltweit wegen schlechten Wetters verloren gegangen waren. In vielen Fällen, vermutet man, sind sie Monsterwellen zum Opfer gefallen.
Extremwellen auch bei ruhiger See
Die Wissenschaft wartet mit verschiedenen Theorien und komplexen Modellen auf, um die Entstehung der zerstörerischen Riesenwellen nachzuvollziehen. So können sich offenbar mehrere kleinere Wellen von unterschiedlicher Geschwindigkeit zu einer Monsterwelle aufbauen. Schnelle Wellen holen dabei die langsamen ein und überlagern sie. Schicht um Schicht kann so eine gigantische Woge heranwachsen. Die Forscher sprechen in diesem Fall vom Huckepackmodell.
Doch auch Meeresströmungen können eine zentrale Rolle spielen. Denn treffen Strömungen aus entgegensetzten Richtungen aufeinander, werden die Wellen in vorderster Front zusammengedrückt. Sie werden höher und steiler und können sich zum Riesenbrecher auftürmen. Wissenschaftler beobachten dies im Strömungsmodell. Und dann ist da noch das Kreuzseenmodell: Strudel, drehende Winde und Wirbel können Wellen an einer Stelle zusammenlaufen lassen. Das Ergebnis kann eine Extremwelle sein - und das bei ruhiger See.
Erklärung ist gut, Vorhersage besser
Was Modelle erklären, konnte auf dem Meer noch nicht von Anfang bis Ende wissenschaftlich beobachtet und analysiert werden. Das Earth Observation Center des DLR fand heraus, dass die Bildung von Monsterwellen in der Nordsee oft mit ausgedehnten Windböen-Systemen einhergeht. Sind die Böen, die sich über das Wasser bewegen, ähnlich schnell wie die langen Ozeanwellen, führt der Wind den Wellen kontinuierlich Energie zu und lässt sie stetig wachsen. So können einzelne Gruppen sehr hoher Wellen entstehen. Charakteristisch für diese Entwicklung sind bestimmte Wolkenformationen.
Die sind ein wertvoller Hinweis. Denn die Erklärung von Monsterwellen ist nur der erste Schritt. Viel wichtiger ist es, sie vorhersagen und vor ihnen warnen zu können. Mithilfe von Simulationen versuchen Forscher herauszufinden, in welchen Gebieten und unter welchen Umständen die bedrohlichen Wogen besonders wahrscheinlich sind. Für Schiffe gibt es Anleitungen, wie sie einer Monsterwelle am besten begegnen. Doch damit ist die Gefahr nicht gebannt. Weitaus sicherer wäre es, der zerstörerischen Wucht von vornherein aus dem Weg zu gehen. Aber so berechenbar sind Kaventsmänner und ihre Verwandten bislang nicht. Noch sind die technischen Voraussetzungen nicht gegeben, um einzelgängerische, schnelle Riesenwellen vorherzusagen - zuverlässig und vor allem rechtzeitig.
Quelle: ntv.de