Leben

In Vino Verena Endlich schön!

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Immer mehr Menschen rennen einem falschen Schönheitsideal hinterher.

(Foto: privat)

Schlupflider, kurze Wimpern, schiefe Zähne: Wer heute noch mit vermeintlichen Makeln durchs Leben stromert, sei selbst schuld, musste unsere Kolumnistin sich anhören. Sie erhielt natürlich wohlmeinende Tipps. Achtung: Lesen Sie diesen Text nur, wenn Sie nicht übersäuert sind!

Liebe Leserinnen und Leser, eins vorab: Während ich diese Kolumne schreibe, ziehe ich Öl durch meine Zähne. Öl ziehen ist ein ayurvedisches Naturheilverfahren und soll gut für die Zähne und das Zahnfleisch sein. Nur der Vollständigkeit halber möchte ich erwähnen, dass ich sehr gutes, natürlich kaltgepresstes Schwarzkümmelöl verwende. Ich habe auch mal Olivenöl ausprobiert, Kokosöl ist auch nicht schlecht, aber es sollte definitiv ein gutes Öl sein und nicht das, was man auf die Fahrradkette oder quietschende Türscharniere träufelt. Außerdem versuche ich aktuell, mich basisch zu ernähren, weil ich nämlich glaube, übersäuert zu sein. Einerseits vermutlich, weil ich mir zu viel ungesunden Krempel einverleibe und erst jetzt beginne zu lernen, wie man richtig guten, gesunden Mutti-Eintopf zubereitet. Die andere Quelle für meine Übersäuerung habe ich aber auch gefunden. Es ist - das Internet!

Das Internet oder besser gesagt, so manche Leute, die durch selbiges turnen und ihr Unwesen treiben, haben meinen pH-Wert schrumpfen lassen. Vermutlich bin ich schon gar kein richtiger Mensch mehr und diesen Text schreibt eine Zitrone auf zwei Beinen. Wissen Sie, liebe Leserinnen und Leser, ich bin immer wieder darüber erstaunt, dass ich mich überhaupt noch über die Leute wundere. Denn eigentlich (sic!) wundert mich nichts mehr. Das ist schon ziemlich paradox, hat aber vermutlich auch etwas mit meiner Übersäuerung zu tun. Es wundert mich beispielsweise nicht mehr, wenn mir irgendwelche Einfaltspinsel böse Hasskommentare schicken, mich beleidigen oder mir schreiben, ich sei eine Schande für die deutsche Sprache. Ganz ehrlich: Juckt mich nicht!

Was mich aber in letzter Zeit wundert, sind die gutgemeinten Ratschläge, die mir wildfremde Menschen ungefragt erteilen. Halten Sie sich fest, das glauben Sie nicht: Neulich postete ich ein Foto von mir im Schnee. Ich stehe auf einem Hinterhof und grinse vor den Wäscheleinen, die immer noch sofort Reminiszenzen an Opa hervorrufen, wie er einst, vor vielen Jahren, mit Fluppe im Mundwinkel und Teppichklopfer in der Hand inbrünstig den hässlichen Flokati beackert hat.

"Dein Schneidezahn ist schief"

Kurz darauf erhalte ich den ersten "gut gemeinten" Hinweis von einer netten, mir unbekannten Dame: "Dein Schneidezahn ist schief. Siehst du das nicht? Wie kann man so rumrennen? Das hast du doch gar nicht nötig!" Hilfe, wie bitte? Einer meiner Schneidezähne ist schief? Das wusste ich ja gar nicht! Es ist nicht zu fassen, eines Tages wird mich vermutlich nicht irgendeine Krankheit dahinraffen, sondern die Blicke der Leute, weil ich doch tatsächlich mit schiefen Zähnen durch die Gegend spaziere und es verpasst habe, mir auf selbige ein paar gute Zahnschienen zu stülpen.

Schiefe Zähne seien längst nicht mehr individuell, sondern doof. Zahnlücken sind auch doof. Schneeweiß sollte die Kauleiste sein. Alles kann man heutzutage bleachen lassen. Ich will da gar nicht näher drauf eingehen. Das Kopfkino überlasse ich Ihnen. Ebenfalls erhielt ich kürzlich einige Ratschläge wegen meiner Schlupflider, die seien ja schon "gravierend": "Benutze mal diese eine App da! Die bieten auch Wimpern-Verlängerung an!" Hach, ja, schiefe Zähne, kurze Wimpern: was für ein Dilemma!

Ich bin, was Apps betrifft, ein bisschen hinterm Mond. Ich habe eine Wetter-App, die ntv-App und noch zwei, drei andere. Also lade ich mir besagte App runter und schaue mir die Chose einmal genauer an. Unter dem Reiter "Fun" gibt es ein paar interessante Filter und ich denke mir sofort: Wie ausgeklügelt die Macher sind, diesen Wahnsinn in die "Fun"-Kategorie zu packen, denn für viele - vor allem junge - Frauen ist das kein Spaß. Die glauben das! Ich beginne zu recherchieren. Ich schaue mir viele sehr erfolgreiche Instagram-Accounts junger Frauen an: dieser perfekte Teint, die ewig gleichen Augenbrauen, der Schmollmund, die langen Wimpern. Unter den Posts viele Herzen - vor allem von Männern. Instagram sieht sich in erster Linie als Foto-Plattform. Und natürlich generieren schöne Selfies mehr Klicks und Reichweite als der Account von Tim, der über Sexismus und/oder Misogynie aufklärt.

Einzigartigkeit verkommt zum Einheitslook

Aus Neugier starte ich ein kleines Projekt. Einen Account, der nur Fake-Bilder zeigt, bearbeitet mit einer "Fun"-App, die als Vorlage für Frauen gilt, die damit zum Schönheitschirurgen rennen und sich wünschen, so auszusehen wie auf ihrem Fake-Foto. Die Kommentare sind immer dieselben: "Du bist so schön." "Wahnsinn." "Ein Augenschmaus."

Als ich über meine Erfahrungen schreibe, werfen mir Menschen Bigotterie vor, schließlich gäbe es auch Frauen, die "in echt" so aussehen wie auf den Bildern. Natürlich gibt es die. Aber viele Frauen sehen eben nicht so aus. Schönheit ist individuell. Und es ist eine Gefahr, wenn junge Frauen und Männer glauben, nicht dem Ideal zu entsprechen, weil sie nicht so aussehen wie die Menschen, die nicht existieren. Die Grenzen zwischen Realität und Filter verschwimmen, Einzigartigkeit verkommt zum Einheitslook. Das ist kein Fun, das ist gefährlicher Wahnsinn. Eine Gesellschaft, die zulässt, dass Leute aus dem Silicon Valley Menschen manipulieren, ist genauso krank wie zu glauben, ein Schmollmund und gebleachte Zähne seien das Ideal wahrer Schönheit.

So, ich spucke jetzt das Öl aus. Und dann schaue ich aus kleinen Schlupflidern dabei zu, wie die Zahnbürste über meinen schiefen Schneidezahn gleitet. Herzlichst, Ihre übersäuerte Dittrich.

Quelle: ntv.de

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