Sich gemeinsam entwickeln Warum Eltern und Kinder von Grenzen profitieren


Manchmal muss man auch deutlich sagen, ich schaffe das jetzt nicht mehr.
(Foto: IMAGO/Westend61)
Viele Eltern bleiben im Alltag mit ihren Bedürfnissen auf der Strecke. Irgendwann platzt ihnen dann der Kragen. Erziehungsexpertin Nora Imlau zeigt überlasteten Müttern und Vätern einen Ausweg aus diesem Dilemma.
Immer mehr Eltern erziehen bedürfnisorientiert. Sie versuchen, die Bedürfnisse ihrer Kinder zu erkennen und so gut wie möglich darauf einzugehen. Diese bewusste Abkehr von autoritären Erziehungsmodellen führt jedoch bei vielen immer öfter dazu, dass sie sich irgendwann wahnsinnig erschöpft fühlen. Im Abwägen des Wohlergehens des Kindes gegen das eigene ziehen die Erwachsenen regelmäßig den Kürzeren.
Eltern an der totalen Überlastungsgrenze erlebte auch Erziehungsexpertin Nora Imlau immer wieder. "Während der Corona-Lockdowns haben mir viele verzweifelte Eltern geschrieben, dass sie völlig am Stock gehen, weil sie irgendwie überhaupt nicht mehr atmen können", erzählt sie ntv.de. Imlau begann Workshops zu geben, in denen es darum ging, wie Mütter und Väter den wütenden Frust ihrer Kinder annehmen und begleiten können, ohne permanent die eigenen Grenzen zu überschreiten. Inzwischen ist daraus das Buch "Meine Grenze ist dein Halt" entstanden.
"Im Familienleben kommt es ständig zu Interessenkonflikten zwischen Kindern und Eltern", sagt Imlau, die selbst vierfache Mutter ist. Eltern müssten deshalb dauernd entscheiden, welches Bedürfnis Vorrang hat und welches aufgeschoben werden muss. "Gerade als zugewandte Eltern neigen wir dazu, immer unsere eigenen Bedürfnisse automatisch und immer weiter aufzuschieben, weil permanent ein anderes Bedürfnis nachkommt." Sicher könnten Erwachsene besser Bedürfnisaufschub leisten als Kinder. "Aber Bedürfnisaufschub und Bedürfnisnegierung sind zwei verschiedene Paar Schuhe."
Bei vielen Eltern laufe es im Alltag darauf hinaus, dass sie mit ihren Bedürfnissen häufig auf der Strecke bleiben. "Im Alltag mit kleinen oder größeren Kindern kommen Mütter und Väter irgendwann an Grenzen. Dann gibt es diese klassischen Entladesituationen. Man reagiert in einer kleinen Situation plötzlich wütend, schreit das Kind an oder setzt sich eben dann doch autoritär durch", beschreibt Imlau diesen Zustand. "Der einzige Weg, mit dem man diese Ausbrüche zumindest stark verringern kann, ist, indem man im Alltag besser für sich sorgt. Das klingt leicht und ist total schwer", sagt Imlau.
Niemand ist ohne Grenzen
Die 39-Jährige wirbt deshalb dafür, die eigenen Grenzen wieder wahrzunehmen und zu respektieren. Das beginne damit, zu akzeptieren, dass jeder Mensch das habe, was man im Englischen boundaries nennt, also persönliche Grenzen. Das können Schamgrenzen sein, Belastungsgrenzen oder auch einfach das Ende der Komfortzone. In ihren Seminaren und jetzt auch im Buch baut Imlau den Eltern dafür Brücken.
Sie könnten beispielsweise im Alltag regelmäßig einen Moment innehalten und den eigenen Körper checken. "Ich kann mich fragen, ist mir eigentlich warm oder kalt? Habe ich Hunger? Habe ich Durst oder muss ich zur Toilette?", erläutert Imlau. "Also habe ich auf der ganz basalen körperlichen Ebene alles, was ich brauche?" Viele merkten dann, dass sie schon seit einer Stunde einhalten und auch noch nichts getrunken oder gegessen haben. Ein weiterer Schritt sei, zu überprüfen, mit welcher inneren Stimme man mit sich selbst spricht. "Kann ich mich selber loben und gut finden für das, was ich tue? Gönne ich mir Pausen? Habe ich verinnerlicht, dass ich mir Pausen nicht verdienen muss, sondern dass Pausen ein Menschenrecht sind?"
Was banal klingt, fällt vielen Eltern bereits schwer. Denn, wer sich dann beispielsweise erstmal hinsetzt und etwas trinkt, muss auch lernen, den Frust des Nachwuchses auszuhalten, der dann warten muss. Imlau betont immer wieder, dass sie gut verstehen kann, wie man in diese überfordernden Muster hineinrutscht. "Man denkt, es kostet mich jetzt weniger Kraft, einfach noch ein bisschen auszuhalten, als jetzt eine halbe Stunde einen Wutanfall zu begleiten."
In der Konsequenz sei dieser Weg aber viel anstrengender. "Es ist total wichtig, dass unsere Kinder die Erfahrung machen, ich bin bedingungslos geliebt und meine Mama und mein Papa lieben sich selbst aber auch und sorgen sich um sich genauso wie um mich." Dazu gehöre, dass Kinder immer wieder sogenannte Micro-Frustrationen erleben, also kleine Momente, in denen es nicht zuerst nach ihnen geht. "Sie machen dann die Erfahrung, ich finde das blöd und darf darüber wütend oder traurig sein. Ich werde auch nicht bestraft, aber ich muss das ein Stück weit aushalten lernen." Je älter die Kinder werden, desto stärker könnten Mütter und Väter ihre Rechte verteidigen.
Bedürfnisorientierung auch für sich selbst
Gerade wenn sich eine Familiendynamik eingeschlichen hat, in der Eltern sehr wenig persönliche Grenzen hochgehalten haben, sei es wichtig, einen Kurswechsel klar zu kommunizieren. Imlau rät dazu, deutlich anzusagen: "Bis jetzt haben wir das so gemacht und jetzt merken wir, dass es uns damit nicht mehr gutgeht. Ab jetzt läuft es anders." So entstehe auch ein Dialog darüber, was alle Familienmitglieder brauchen. Die Motivation für diese Anstrengung kommt bei bindungsorientierten Eltern häufig aus den eigenen Erziehungsüberzeugungen. Denn Kinder lernen durch nichts so überzeugend wie durch Vorbild. Wer also möchte, dass die eigenen Kinder ihre Grenzen achten können, sollte das jeden Tag vorleben.
Imlau kann sich noch gut an das schlechte Gewissen erinnern, als sie selbst begann, ihre persönlichen Grenzen stärker zu priorisieren. "Ich hatte das Gefühl, ich mute meinen Kindern so viel zu. Sie weinen viel öfter, haben viel mehr Wut und sind nicht immer nur zufrieden." Inzwischen habe sie das Gefühl, die deutlicher kommunizierten Grenzen haben das Familienleben entspannt.
"Kinder großzuziehen bedeutet ja gar nicht so sehr, die Kinder zu erziehen, sondern dass man sich auch permanent selbst weiterentwickelt und umerziehen muss, indem man beispielsweise bestimmte Glaubenssätze hinter sich lässt, weil sie nicht mehr hilfreich sind. "Viele Eltern ersetzen einen Glaubenssatz, den sie für sich als toxisch oder als schlecht identifiziert haben, quasi durch den gegenteiligen Glaubenssatz." Wer autoritäre Eltern hatte, die ständig Macht ausübten, dreht das um und lasse das Kind nun immer entscheiden. Wer selbst mit Weinen nicht gehört wurde, findet, dass Kinder niemals weinen sollten. Die neuen Glaubenssätze bindungsorientierter Eltern lauteten häufig: Gute Eltern haben immer glückliche Kinder. Wir können alles im Dialog und spielerisch lösen, wir müssen uns nie durchsetzen. Das sei jedoch eine Illusion.
Es gehe vielmehr um einen ganz neuen und eigenen Blick auf die Situation. "Was brauche ich, was kann ich meinem Kind, was kann ich mir selbst an Frust zumuten? Und wie könnte die für diese Situation passende Lösung aussehen?" Oft liege die Lösung im "Und", meint die Erziehungsexpertin. Dann lasse sich die Erfüllung verschiedener Bedürfnisse miteinander verbinden. Eine Mutter geht beispielsweise mit den Kindern auf den Spielplatz, trinkt aber in Ruhe auf der Bank einen Kaffee. Letztlich führt aber kein Weg an der Einsicht vorbei, dass nur gut gefüllte "Bedürfnistanks" die innere Stärke geben, im Familienalltag Wut und Frust auszuhalten und zu begleiten. Davon seien vor allem Alleinerziehende oft weit entfernt. Umso wichtiger findet es Imlau, dass "all die Freundlichkeit und Wertschätzung, die letztlich die Basis bindungsorientierter Elternschaft darstellt, nicht nur in Richtung der Kinder geht, sondern auch an uns selbst".
Quelle: ntv.de