Westjordanland-Doku im Kino Berlinale-Aufreger "No Other Land": Besatzer in Bulldozern


Auf der Berlinale wurde das israelisch-palästinensische Duo Yuval Abraham und Basel Adra für seinen Film ausgezeichnet und für seine Rede angegriffen.
(Foto: picture alliance/dpa)
Der auf der Berlinale ausgezeichnete Dokumentarfilm "No Other Land" ist ein erschütterndes Zeugnis der israelischen Besatzung im Westjordanland. Zum Kinostart in Deutschland kommen nun erneut haltlose Antisemitismus-Vorwürfe auf. Es wäre angebrachter, hinzuschauen.
Wenn die Bulldozer anrollen, geht alles ganz schnell. Soldaten mit Maschinengewehren im Anschlag treiben aufgebrachte Dorfbewohner vor sich her, drücken ihnen Gerichtsbeschlüsse in die Hand und gewähren dem Abrisskommando freies Geleit. Noch ein geschrienes, chancenloses Empören, ein vergebliches Flehen, dann beißen Baggerschaufeln in Betonwände, Betten und Badezimmer und machen eine Existenz in kürzester Zeit dem Erdboden gleich.
Szenen wie diese sind Alltag in Masafer Yatta. Die palästinensische Siedlung im Westjordanland ist eine Ansammlung von Dörfern und in der Landschaft verstreuten, spärlich ausgestatteten Häusern - und wurde von Israel zur militärischen Übungszone erklärt. Nach Ansicht von Menschenrechtsorganisationen steckt dahinter Kalkül: Der geplanten Vertreibung von etwa 1000 Palästinensern soll ein juristischer Anstrich verpasst werden. Vergeblich ziehen die Bewohner bis vor Israels Oberstes Gericht, das der Armee 2022 schließlich die Erlaubnis ausspricht, acht palästinensische Dörfer zu räumen. Dabei ist der Besatzungsmacht fast jedes Mittel recht: Häuser und Ställe werden ohne Ankündigung zerstört, Stromleitungen gekappt und Brunnen zubetoniert. Wer sich auflehnt, kann im Gefängnis landen oder mit Schusswunden im Krankenhaus.
Über fünf Jahre dokumentierten die Aktivisten und Journalisten Basel Adra und Yuval Abraham für ihren Film "No Other Land" die Lebensrealität in Masafer Yatta, Adras Heimatort. Beide sind etwa gleich alt, doch sie trennen Welten: Als Palästinenser lebt Adra unter israelischem Militärrecht, ist in seiner Bewegungsfreiheit massiv eingeschränkt und der täglichen Besatzungswillkür ausgesetzt. Der Israeli Abraham besitzt dagegen volle Bürgerrechte und kann die Grenze nach Israel problemlos überqueren.
Eindrücklich zeigt die Dokumentation, wie die Bewohner von Masafer Yatta ihre zerstörten Häuser per Hand wieder aufbauen und währenddessen in provisorischen Höhlen und Verschlägen leben müssen. Wie bewaffnete Siedler-Mobs in ihr Dorf einfallen, es demolieren, sie einschüchtern und letztlich sogar töten. In stillen Szenen beleuchtet der Film zudem das zur Freundschaft gewachsene Bündnis zwischen Adra und Abraham, deren Asymmetrie nie ganz aufgelöst werden kann.
"Dann will ich eure Schuld nicht"
Anlass für eine inhaltliche Auseinandersetzung hätte die diesjährige Berlinale geboten, auf der "No Other Land" zum Besten Dokumentarfilm gekürt wurde, doch die fand in Deutschland nicht statt. Stattdessen waren Festivalleitung und Preisträger mit Antisemitismus-Vorwürfen konfrontiert. Nicht aufgrund des Films, sondern wegen einer improvisierten Dankesrede, in der Israels Besatzungspolitik als "Apartheid" bezeichnet und der 7. Oktober nicht erwähnt wurde. Regisseur Abraham, Jude und Nachfahre von Holocaustüberlebenden, sagte im Nachgang, man dürfe ihn für seine Rede kritisieren, aber nicht dämonisieren. "Wenn ihr das aber macht, mit eurer Holocaust-Schuld im Rücken - dann will ich eure Schuld nicht."
Damit läuft "No Other Land" bereits vorbelastet in den deutschen Kinos an. Neun Monate nach der Berlinale könnte man nun eine Zurückhaltung deutscher Befindlichkeiten erwarten, ein längst überfälliger Schwenk hin auf das Gezeigte, aber mitnichten. Diesmal riss das offizielle Stadtportal Berlin.de die Debatte mit der unbelegten Behauptung an sich, der Film enthalte "antisemitische Tendenzen". Zudem finde der Angriff der Hamas auf Israel "in dieser Dokumentation keinen Niederschlag", wie es in einer Filmbeschreibung auf der Website hieß.
"Es schmerzt mich, zu sehen, wie sie nach der Ermordung eines Großteils meiner Familie im Holocaust das Wort Antisemitismus seiner Bedeutung berauben", entgegnete Abraham auf X. Es sei ein Versuch, Kritiker der Besatzung im Westjordanland zum Schweigen zu bringen. "Ich fühle mich als linker Israeli im Berlin des Jahres 2024 unsicher und unwillkommen und werde rechtliche Schritte einleiten", so der Regisseur. Zur Seite sprang ihm der deutsche Botschafter in Israel, Steffen Seibert. Die Vorwürfe seien "einfach falsch".
Nach einigen Stunden waren die entsprechenden Halbsätze vom Hauptstadtportal verschwunden. "Die Bewertung war falsch und unzulässig", steht nun in einem Vermerk. Das Land Berlin wies jegliche Verantwortung von sich und teilte mit, die Filmbeschreibungen stammten von einem externen Dienstleister und würden automatisiert veröffentlicht.
Radikale Siedler sehen Momentum
Erwähnung findet der 7. Oktober im Film tatsächlich nur als kurzer Radioschnipsel im Epilog, wenig später endeten die Dreharbeiten. Seither spitzt sich die Lage im Westjordanland weiter zu. Im Schatten des Gaza-Krieges wähnen sich radikale Siedler im Aufwind, angespornt von ihren Interessensvertretern in der israelischen Regierung. Der Wahlsieg von Donald Trump und die Ankündigung von Israels Finanzminister Bezalel Smotrich, das Westjordanland im kommenden Jahr annektieren zu wollen, lässt vorausahnen, dass sich am israelischen Kurs so schnell nichts ändern dürfte.
"No Other Land" erhebt allerdings nicht den Anspruch, einen nüchternen Gesamtüberblick über den Nahost-Konflikt zu geben, sondern nimmt eine klare Perspektive ein: die der Menschen von Masafer Yatta, denen unter der Besatzung Unrecht und Leid widerfährt. Der Film ist ein dezidiert aktivistisches Projekt, realisiert im Kollektiv von Adra, Abraham, der israelischen Kamerafrau Rachel Szor und dem palästinensischen Fotografen Hamdan Ballal.
Eine israelisch-palästinensische Zusammenarbeit, die sich der Feindeslogik widersetzt, jedoch nicht als Versöhnungsparabel verstanden werden will. Den Machern geht es um etwas anderes: friedlichen Widerstand. Durch Sichtbarmachung, Aufmerksamkeit, ja, auch durch Kritik an Israel. Die seit Jahrzehnten andauernde Besatzung ist nach internationalem Recht illegal; ihre Auswirkungen unter Lebensgefahr zu dokumentieren, gebührt Anerkennung.
Die in "No Other Land" sichtbar gemachte Brutalität schmerzt beim Zusehen. Gerade darum ist es wichtig, hinzuschauen. Als deutscher Kinogänger, aber auch als internationale Gemeinschaft: So zeigt eine Rückblende den Besuch des damaligen britischen Premierministers Tony Blair in Masafer Yatta. Eine in Eigenregie der Bewohner errichtete Grundschule war vom Abriss bedroht, weil eine Baugenehmigung fehlte, die so gut wie nie ausgestellt wird. Sieben Minuten lang ließ sich der von Kameras umringte Premier über das Schulgelände führen. Sieben Minuten, die anscheinend ausgereicht haben, um Israel vom Abrissvorhaben abzubringen, zumindest vorerst. Ein paar Jahre verstrichen, dann kamen die Bulldozer doch.
"No Other Land" läuft ab sofort in den deutschen Kinos.
Quelle: ntv.de