"Tatort" aus Frankfurt Die Polizei, dein Freund und Prepper
10.09.2023, 21:49 Uhr Artikel anhören
Paul Brix (Wolfram Koch) findet bei seinen Ermittlungen so einige Vorräte.
(Foto: HR / U5 Filmproduktion / Daniel Dornhöfer)
In ihrem 17. gemeinsamen Fall mussten Brix und Janneke auf Nachtschicht, fast der komplette "Tatort" spielte sich im Halbdunkel ab. Kein entspanntes Krimivergnügen, vielmehr ein Trip in durchaus reale Parallelwelten, so spannend wie polarisierend.
Die Älteren unter den ARD-Zuschauern dürften sich beim "Tatort" am Sonntagabend womöglich an das Jahr 1980 erinnert gefühlt haben. Rainer Werner Fassbinder hatte den Alfred-Döblin-Klassiker "Berlin Alexanderplatz" als 14-teilige Serie verfilmt. Die Geschichte um den Ex-Häftling Franz Biberkopf, dargestellt von Günther Lamprecht, später als Franz Markowitz selbst ein "Tatort"-Kommissar, entpuppte sich als kontrovers diskutiertes Spektakel. Der mediale Wirbelsturm um das mit Spannung erwartete TV-Event war fast kurzweiliger als die Serie selbst.
"Berlin Alexanderplatz" gehöre "zum Besten, was je im deutschen Fernsehen gesendet wurde", lobte etwa "Die Zeit" überschwänglich und stand mit ihrem positiven Urteil doch einigermaßen exklusiv da. An anderer Stelle kam es ganz dicke, Zuschauerproteste, knallige "Bild"-Schlagzeilen, sogar Morddrohungen - im Fokus der Kritikoffensive stand auch die etwas schattige Bildkomposition von Kameramann Xaver Schwarzenberger. Von der "teuersten und verheerendsten Pleite" des deutschen Fernsehens war da die Rede.
Wenn Döblin Fassbinders Film sehen könnte, würde er sich übergeben, motzte damals Regie-Kollege Geza von Cziffra ("Die Beine von Dolores"). Gut vier Dekaden später scheint sich am Tonfall wenig geändert zu haben. Von "überzüchtetem Kunstquark" ist auf kino.de die Rede, der Frankfurter "Tatort" hätte spätestens beim Blutregen-Finale die "Bodenhaftung" verloren. Als wäre das ein Impetus: Kunst nur in Maßen, schon gar kein "Quark" bitte sehr, was immer das bedeuten mag, und immer schön die "Bodenhaftung" bewahren. That's entertainment? Eher nicht.
"Das reale Leben war die Inspiration"
Fassbinder und seinem Serienprojekt wurde Jahre später jene Ehre zuteil, die sie ursprünglich verdient hätten - für ein eigenwilliges Kunstwerk, das sich abseits so einiger Gepflogenheiten Döblins Stoff zu eigen gemacht und auf ungewöhnliche Weise umgesetzt hatte. Nach der Ausstrahlung hatte der Filmemacher noch zeitweise unter Polizeischutz leben müssen. Eine Serviceleistung, auf die "Tatort"-Regisseur Bastian Günther angesichts des Sujets von "Kein Erbarmen. Zu spät." wohl eher nicht bauen sollte, stand der Freund und Helfer doch im Mittelpunkt seiner polizeikritischen Geschichte mit aktuellem Hintergrund.
"Das reale Leben war die Inspiration. Die Vorgänge rund um die Polizeiwache 1 in Frankfurt und die NSU 2.0-Drohbriefe waren und sind immer noch verstörend. Auch wenn schlussendlich ein Schuldiger - kein Polizist - festgenommen und verurteilt worden ist, bleiben viele offene Fragen", so Günther über seine Hintergedanken beim "Tatort"-Dreh. "Der Fall um die Drohbriefe ist ja nur ein Fall, bei dem die Polizei in Verbindung zu rechten Aktionen steht. Auch unter Reichsbürgern oder Prepper-Gruppen finden sich immer wieder Polizisten oder Bundeswehr-Soldaten. Und immer wieder wird von Einzelfällen gesprochen. Ich möchte nicht alle Polizisten über einen Kamm scheren, die meisten sind bestimmt gute Leute. Aber wie viele Einzelfälle sind ein Netzwerk?"
Der "Einzelfall" im "Tatort" - Günther erzählte ihn jenseits üblicher Plotstränge, verbaute die Geschichte vielmehr zu einer traumartigen Sequenz, bei der das Reale zunehmend diffus wird, ähnlich wie beim Übergang vom Halbschlaf zum Schlaf. Eine cineastische Zwischenwelt, in der die Grenzen verschwimmen. Das Verschwörungsmomentum, die Story um Brix' alten Kollegen Radomski, der zum bürgerwehrhaften Prepper-Cop samt willfährigem Gefolge mutiert ist, wirkte beklemmend real. Gleichzeitig hebt das nachtschattige Setting - und nicht zuletzt das verstörend-faszinierende Finale - den Film in jene Sphären, die die einen eben als "Quark" … und die anderen als Kunst bezeichnen.
Am kommenden Sonntag erwartet Krimifans eine Premiere: Im "Polizeiruf 110: Little Boxes" ist dann zum ersten Mal Johanna Wokalek als Kriminalhauptkommissarin Cris Blohm im Einsatz.
Quelle: ntv.de