Kompromiss steht Ampel-Spitzen "diskutieren sich zusammen"
29.03.2023, 00:43 Uhr
Auch wenn man es ihm nicht ansieht: Christian Lindner hat Grund, sich über das Ergebnis des Verhandlungsmarathons zu freuen.
(Foto: dpa)
Rund 30 Stunden tagt der Koalitionsausschuss der Bundesregierung, der Kanzler spricht von einem "mühseligen" Prozess. Der sei aber auch nötig, schließlich trage man im Kleinen die großen Fragen der Zeit aus. Auf die gefundenen Kompromisse, die vor allem den Grünen einiges abverlangen, scheinen die Ampel-Spitzen außerordentlich stolz zu sein.
Fast drei Tage Ringen hinter verschlossenen Türen. Am Ende habe sich das alles gelohnt, verkündeten die Spitzen der Ampel-Koalition am Abend. "Wir haben echte Durchbrüche erzielt, wirkliche Paradigmenwechsel und deshalb spricht das Ergebnis einfach für sich", sagte FDP-Chef Christian Lindner nach dem Verhandlungsmarathon des Koalitionsausschusses in Berlin. Wenn das immer so laufe, "dann sollten wir zukünftig jeden Monat drei Tage in Klausur gehen".
Unter dem Strich standen am Dienstagabend eine Reihe teils überraschender Beschlüsse zum Klimaschutz im Verkehr. Eine Rechtfertigung für den schier endlosen Koalitionsstreit hatten die Koalitionäre auch parat: Die Ampel-Regierung trage hier sozusagen im Kleinen die Konflikte der Gesellschaft aus. Das lange Gerangel klingt nun wie etwas Wünschenswertes.
"Der mühselige Arbeits- und Verhandlungsprozess, den sich die Koalitionsparteien und meine Regierung jetzt vorgenommen haben, ist ja stellvertretend für die ganze Gesellschaft auf ihrem Weg in eine wirtschaftlich erfolgreiche Moderne", sagte Kanzler Olaf Scholz. Bedeutet: So zerstritten, wie sich die Koalition zuletzt präsentierte, so uneins sei auch die Gesellschaft, wenn es um den Klimaschutz und seine Kosten gehe. Schon vor Ende versprach der Kanzler überschwänglich "sehr, sehr, sehr gute Ergebnisse".
Auch die Parteichefs von SPD, Grünen und FDP zeigten sich hochzufrieden. Die Beschlüsse garantierten, "dass viele Dinge im Land schneller laufen werden", versprach SPD-Chef Lars Klingbeil. Deutschland solle modernisiert werden, Infrastrukturprojekte sollten schneller vorankommen, die erneuerbaren Energien zügiger ausgebaut werden. Damit löse sich die Koalition von ihrer Agenda des vergangenen Jahres, mit den Folgen des russischen Kriegs in der Ukraine klarzukommen und wende den Blick nach vorn. Grünen-Chefin Ricarda Lang, deren Partei die meisten Kröten schlucken musste, versprach, die Ampel gehe jetzt Strukturreformen an, "um dieses Land voranzubringen".
Während CDU-Chef Friedrich Merz der Bundesregierung schon im Verlauf der Verhandlungen attestierte, "stehend k.o." zu sein, legten die Fraktionsspitzen von Linken und AfD heute nach: "Der Berg kreißte und gebar eine Maus", stellte AfD-Chefin Alice Weidel bei t-online fest. Das "neue Deutschlandtempo" führe "unser Land in den Abgrund". "Sehr, sehr peinlich" fand Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch die Beschlüsse und sprach von einem "Debakel für die Bundesregierung". Anders sieht das die Wirtschaftsweise Veronika Grimm: "Die Ergebnisse machen Mut, dass die Koalition handlungsfähig ist. Ein wichtiges Signal", sagte sie der "Rheinischen Post".
Deutliche Stärkung der Bahn
Die Ampel will "erhebliche Mittel" in die Modernisierung und Erweiterung des Schienennetzes stecken. Bei der Deutschen Bahn gebe es einen Investitionsbedarf bis 2027 von rund 45 Milliarden Euro. Dieser soll unter anderem durch Einnahmen aus der Lkw-Maut auf Autobahnen und Bundesstraßen gedeckt werden. "Eine gute Idee", lobte Grimm das Vorhaben.
Bereits im Koalitionsvertrag hatten SPD, Grüne und FDP eine Reform der Lkw-Maut vereinbart, deren Einnahmen bisher nur in Fernstraßen gehen. Bei der Nutzungsgebühr soll nun zum 1. Januar 2024 ein CO2-Aufschlag von 200 Euro je Tonne eingeführt werden. Emissionsfreie Lkw sollen bis Ende 2025 von der Maut befreit und anschließend nur 25 Prozent des regulären Satzes zahlen müssen. Zudem sollen ab 2024 auch schon kleinere Lkw ab 3,5 Tonnen in die Mautpflicht einbezogen werden. "Handwerksbetriebe werden ausgenommen", heißt es im Beschlusspapier. Für Bahn-Vielfahrer soll das 49-Euro-Ticket ohne Aufpreis in die Bahncard 100 integriert werden, so dass diese in allen Städten auch für den Nahverkehr genutzt werden kann.
Schnellerer Ausbau auch von Autobahnen
Darüber hatte die Koalition zuvor heftig gestritten: Die FDP wollte nicht nur Bahnstrecken, sondern auch Autobahnen schneller ausbauen, um Staus bei mehr Güterverkehr zu verhindern. Die Grünen stemmten sich lange dagegen. Nun soll eine eng begrenzte Zahl von besonders wichtigen Autobahn-Projekten eine Sonderstellung bekommen. Das soll diese Projekte beschleunigen, unter anderem durch weniger aufwendige Umweltschutzprüfungen. Lindner sprach von 144 Projekten. Der Bahnbeauftragte der Bundesregierung, Staatssekretär Michael Theurer von der FDP, nannte als Beispiele für eine Planungsbeschleunigung von Straßen an Engpässen die Autobahnen A5, A6 und A8.
Die Kommunen begrüßten die Verkehrsbeschlüsse. Deutschland werde noch sehr lange auf die Automobilität angewiesen sein, der Ausbau des Schienennetzes werde Jahrzehnte dauern, betonte Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebunds in der "Rheinischen Post". "Da andererseits wegen der Bedarfe der Verkehr nicht ab- sondern zunimmt, ist es natürlich sinnvoll, nicht nur das Straßennetz zu ertüchtigen, sondern Neubauten mit Augenmaß zuzulassen, um den Verkehrsfluss zu verbessern", so Landsberg
Heizungsaustausch soll gefördert werden
Die Ampel-Koalition will den Einbau klimafreundlicherer Heizungen angehen - dabei soll es einen sozialen Ausgleich geben. "Man kann sagen: Niemand wird im Stich gelassen", betonte Lang. Bei der Linken mag man das nicht glauben: "Dass Habecks weltfremdes Heizdiktat den Koalitionsausschuss überlebt hat, ist eine Hiobsbotschaft für Millionen Bürger", sagte Fraktionschef Bartsch t-online. Die Wirtschaftsweise Grimm sieht das anders: "Im Gebäudesektor ist es offenbar auch gelungen, die negativen Aspekte abzuräumen. Das dürfte alles nicht dazu führen, dass die Stimmung sich gegen den Klimaschutz wendet", sagte sie der "Rheinischen Post".
Details zu den Heizunsplänen nannten die Koalitionäre zunächst nicht. Das Geld soll laut Lindner aus dem Klima- und Transformationsfonds kommen, einem Geldtopf außerhalb des regulären Bundeshaushalts. Heizungen, die derzeit fossile Energieträger nutzen, sollen laut Lindner weiter betrieben werden können, wenn sie mit klimafreundlichen Gasen betrieben werden. Bereits vor einem Jahr hatte die Koalition sich im Grunde schon geeinigt, dass ab dem 1. Januar 2024 möglichst jede neu eingebaute Heizung zu 65 Prozent mit erneuerbaren Energien betrieben werden soll.
Paradigmenwechsel beim Naturschutz
Bei Eingriffen in Natur und Landschaft, beispielsweise durch den Bau von Windrädern oder Straßen, soll künftig Geld als Kompensation gezahlt werden können. "Damit können die Vorhabenträger Infrastrukturprojekte einfacher und schneller planen", erklärte die Ampel. Über die Mittel sollen dann größere und zusammenhängendere Flächen gekauft werden, um eine Renaturierung und den Naturschutz zu stärken - ein Aspekt, den auch viele Umweltorganisationen für sinnvoll halten.
Neuregelung bei Klimaschutzvorgaben
Die Ampel will mehr Flexibilität bei der Erreichung der deutschen Klimaziele ermöglichen. Bisher wird der jährliche Ausstoß an Treibhausgasen für Wirtschaftsbereiche wie Energie, Industrie, Verkehr, Gebäude, Landwirtschaft sowie Abfallwirtschaft erhoben. Überschreitet ein Bereich die vereinbarte Jahresmenge, müssen die Ministerien sogenannte Sofortprogramme für mehr Klimaschutz vorlegen. An dieser Erhebung für jeden Sektor will die Koalition zwar festhalten, nachsteuern soll die Regierung künftig aber erst nach zwei aufeinanderfolgenden Zielverfehlungen - und zwar für alle Sektoren zusammen.
Keine Haushaltswirkung
Die Beschlüsse wirken sich laut Lindner nicht direkt auf den Bundeshaushalt für das kommende Jahr aus. So solle die Stärkung der Bahn-Infrastruktur über die Lkw-Maut finanziert werden und die Förderprogramme für Heizungen aus dem Klimafonds. Der Streit um den Etat für 2024 und die Folgejahre ist demnach noch nicht gelöst. Er sei beim Koalitionsausschuss nur kurz angerissen worden, sagte Lindner. Auch zur Finanzierung und Gestaltung der ab 2025 geplanten Kindergrundsicherung äußerten sich die Koalitionäre nicht. In dem Programm sollen staatliche Leistungen für Familien wie Kindergeld und Kinderzuschlag zusammengefasst werden. Umstritten ist, ob auch Sätze erhöht werden.
Auch nach dem fast dreitägigen Verhandlungsmarathon sind also nicht alle Streitfragen der Ampel-Koalition gelöst. Bis zu 30 Gesetzesvorhaben seien blockiert, hat die "Süddeutsche Zeitung" unlängst gezählt. Der Ton sei "ziemlich ruppig innerhalb der letzten Woche" gewesen, räumte Lang nach den Verhandlungen ein. "Das ist keine Frage. Da müssen wir uns auch alle drei an die eigene Nase fassen, beziehungsweise die Nasen unserer Parteien." Am Ende seien die Ergebnisse aber vielleicht besser, "als wenn wir alle nur mit uns alleine verhandeln würden".
Lindner betonte kryptisch den Wert von Kommunikation: "Man schweigt sich auseinander und man diskutiert sich zusammen. Ich glaube, das ist das Gefühl, was wir als Koalitionspartner am Ende dieses intensiven Beratungsprozesses teilen."
Quelle: ntv.de, ino/dpa