Nach Schuldenbremsen-Urteil Ampel könnte im Bundestag anhaltende Notlage feststellen


Das Bundesfinanzministerium wirbt an seinem Eingang für den neuen Haushalt - der längst nicht in trockenen Tüchern ist.
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Nicht nur der Klima- und Transformationsfonds ist in der bisherigen Form nicht rechtens, auch der Wirtschaftsstabilisierungsfonds wackelt. Im Haushaltsausschuss weisen Experten der Bundesregierung einen möglichen Ausweg. Zur Kompensation der definitiv fehlenden 60 Milliarden Euro bahnt sich immer deutlicher Streit an.
Bald eine volle Woche ist seit dem jetzt schon historischen Schuldenbremsen-Urteil vergangen, doch noch immer sind die Auswirkungen nicht in Gänze absehbar. Das gilt gleichermaßen für Deutschlands Fähigkeit zu Investitionen inmitten einer Rezession als auch für die Zukunft der Bundesregierung. Das Überleben der Ampelkoalition hängt unmittelbar davon ab, ob sich das Dreierbündnis auf einen verfassungskonformen Weg verständigen kann, der zumindest die Finanzierung der wichtigsten Vorhaben für mehr Wirtschaftswachstum und Klimaschutz gewährleistet. In dieser angespannten Lage erreichte die Ampel am Dienstag zumindest leichte Entwarnung.
Der Reihe nach: Vor seiner voraussichtlich letzten Sitzung am Donnerstag zum Haushalt 2024 hörte der zuständige Bundestagsausschuss neun Professoren aus den Bereichen Wirtschaft und Recht sowie Jan Keller vom Bundesrechnungshof an. Gleich mehrere Sachverständige - insbesondere diejenigen, die von Union und AfD eingeladen wurden - attestierten der Bundesregierung, sehenden Auges in die aktuelle Notlage hineingelaufen zu sein.
Tatsächlich hatte unter anderem der Bundesrechnungshof schon 2022 davor gewarnt, nicht genutzte Corona-Kredite, die unter Aussetzung der Schuldenbremse aufgenommen worden waren, für den Klima- und Transformationsfonds (KTF) umzuwidmen. Die auf mehrere Jahre verteilte Verwendung dieser 60 Milliarden hatten die Karlsruher Richter für null und nichtig erklärt.
Überlebenschance für "Doppelwumms"-Fonds
Daraus ergeben sich für die Ampel fünf maßgebliche Probleme: Die zahlreichen durch den KTF finanzierten Vorhaben stehen infrage. Ohne diese Mittel verändert sich das reguläre Verschuldungslimit für das kommende Jahr, was zweitens wiederum den fast fertigen Haushalt infrage stellt. Drittens könnten weitere Sondervermögen, vornehmlich der als "Doppelwumms" bekannt gewordene, 200 Milliarden Euro schwere Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) ebenfalls illegal sein. Damit steht viertens die Rechtmäßigkeit des Haushalts 2023 auf der Kippe und fünftens auch die des Haushalts 2024.
Nun zur guten Nachricht: Rechtswissenschaftler Hanno Kube, der die 60-Milliarden-Klage für die Union in Karlsruhe vertreten hatte, ist zwar wie auch andere Experten der Ansicht, dass der WSF "sehr, sehr hohe Ähnlichkeit" zum verfassungswidrigen KTF aufweise. Auch hier sollen Kreditermächtigungen aus der Energienotlage 2022 in den Folgejahren genutzt werden. Aber: Kube und der von der SPD eingeladene Jurist Alexander Thiele gehen beide davon aus, dass der Bundestag noch feststellen könnte, dass die wirtschaftliche Notlage des Jahres 2022 auch im laufenden und kommenden Jahr fortbesteht.
"Der Darlegungsbedarf ist hoch", schränkt Kube ein. Und zwar umso höher, je länger der ursprüngliche Anlass für die Aussetzung der Schuldenbremse her ist. Die Bundesregierung müsste also mindestens in diesem und im nächstens Jahr im Bundestag - und im Zweifel auch vor dem Verfassungsgericht - nachweisen, dass der ursprüngliche Schock fortwirkt. Im Fall des WSF wären dies die Auswirkungen des russischen Überfalls auf die Ukraine auf die Kosten der deutschen Energieversorgung. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hatte bereits erklärt, dass er sich auf eine Unrechtmäßigkeit des WSF in der jetzigen Form einstellt. Nachdem Bundesfinanzminister Christian Lindner die Haushaltssperre verhängt hat, sind weitere Ermächtigungen auch aus dem WSF blockiert - offenbar in derselben Annahme.
Lindners Leute hören zu
In der Expertenanhörung kündigte Lindners Staatssekretär Florian Toncar an, dass sein Haus dem Ausschuss bis Donnerstag eine Einschätzung zu den Folgen des Schuldenbremsen-Urteils vorlegen werde. Man habe vorher aber auch die vom Bundestag eingeladenen Sachverständigen hören wollen. Die Ministerialbeamten werden daher aufmerksam vernommen haben, dass Kube und Thiele einen Weg gewiesen haben, den WSF durch erneute Notlage-Feststellungen für die Jahre 2023 und 2024 zu retten. Auch der von den Grünen geladene Finanzrechtler Henning Tappe sieht diese Möglichkeit gegeben.
Die FDP hat zwar kein Interesse daran, die Schuldenregel selbst zu ändern oder erneut eine Aussetzung anzustreben. Der Beschluss, dass die Folgen des Gaspreis-Schocks von 2022 bis heute anhalten, wäre dagegen ein geringerer Gesichtsverlust für die Freidemokraten als ein vollständiger Verzicht auf die WSF-Mittel: Mehr noch als die Mittelumwidmung im KTF fällt die Konstruktion des "Doppelwumms"-Fonds in die Zuständigkeit des amtierenden Bundesfinanzministers.
Plus: Sollten der Regierung deutlich mehr Krisenkredite als die bereits verlorenen 60 Milliarden Euro wegfallen, könnte sich die FDP noch schwerer einer koalitionsinternen Debatte über eine Reform der Schuldenbremse und mögliche Steuererhöhungen entziehen. So aber besteht zumindest noch eine Restmöglichkeit, die bis zu 20 Milliarden Euro, die allein für das kommende Jahr fehlen, anderweitig gegenzufinanzieren.
Wo sparen?
Die Bundesregierung scheint dabei in Kauf zu nehmen, dass sie hierfür den in dieser Woche zu verabschiedenden Haushalt im neuen Jahr qua Nachtragshaushalt abändern muss - wovor die Union warnt. Damit könnte der Bund im Januar auf die momentan fluide Schuldengrenze reagieren - deren regulärer Oberwert nach dem Karlsruhe-Urteil noch umstritten ist - und nachträglich Mittel aus dem regulären Haushalt KTF-Projekten zuschieben. Das hieße aber, dass zuerst anderswo gespart werden müsste. Bis Jahresende will die Koalition hierüber Einigkeit erzielen.
Wie diese Einigkeit zustande kommen soll, bleibt aber vorerst unklar. SPD-Fraktionsvize Matthias Miersch forderte im ntv-Frühstart ein Sondervermögen Klimaschutz, wofür es wie beim Bundeswehr-Sondertopf der Zustimmung der Union bedürfte. SPD-Chefin Saskia Esken plädierte in den Funke-Medien dafür, die Schuldenbremse im laufenden und kommenden Jahr erneut auszusetzen, was die FDP bislang ablehnt. Ihr Generalsekretär Kevin Kühnert warb für eine Reform der Schuldenbremse, die aber wiederum auch die Stimmen der Union bräuchte. Zusammen mit den Grünen wiesen die Sozialdemokraten Vorstöße aus der FDP zurück, bei Sozialausgaben zu sparen, etwa beim Bürgergeld.
Vorerst keine Klage von AfD und Union
Die Grünen-Spitze und der vom Urteil maßgeblich betroffene Bundeswirtschaftsminister werden sich zu dem Thema ab Donnerstag vor den eigenen Leuten zu verantworten haben. Beim Bundesparteitag der Grünen in Karlsruhe werden die Delegierten erwartbar darauf drängen, dass ihre Partei beim Klimaschutz keine weiteren Kompromisse macht. Die Debatte zu den Auswirkungen des Schuldenbremsen-Urteils ist erst spät in der Nacht zu Freitag angesetzt. Endgültig werden die Pflöcke zur Zukunft des Klimatransformationsfonds ohnehin erst nach den Parteitagen von Grünen und SPD (8. bis 10. Dezember) eingeschlagen.
Union und AfD werden kurzfristig nicht gegen den WSF klagen, um ihn gleich dem KTF einzureißen. Der AfD fehlen die nötigen 25 Prozent Sitzanteil im Bundestag, um allein eine Normenkontrollklage anzustreben. Die Union möchte erst einmal abwarten, wie die Regierung reagiert.
Möglich auch, dass den Konservativen die wirtschaftlichen Auswirkungen ihres Klageerfolgs selbst nicht ganz geheuer sind. In der Bundestagsanhörung lud die Unionsfraktion unter den eigenen drei Sachverständigen nur einen Ökonomen ein: Thiess Büttner begrüßte zwar die künftige Geltung der Schuldenbremse ausdrücklich. Doch auch der Wirtschaftswissenschaftler der Universität Erlangen-Nürnberg ordnete die Auswirkungen des Wegfalls der KTF-Milliarden für Privatinvestitionen von Bürgern und Unternehmen ähnlich harsch ein wie der von der SPD geladene Jens Südekum und der von den Grünen zitierte Michael Hüther: Büttner sprach von einem "Schock".
Quelle: ntv.de