Schatten hat Fußball im Griff Anpfiff zum Ende der WM in Katar bedeutet nichts Gutes
18.12.2022, 15:50 Uhr
Glänzende Aussichten, oder?
(Foto: IMAGO/Pressinphoto)
Das Finale der Fußball-WM 2022 in Katar beginnt ausgerechnet am Tag der Migranten. Argentinien will den ersten Pokal seit 36 Jahren, Lionel Messi einen ruhmreichen Abschied. Frankreich will als erste Mannschaft seit 60 Jahren den Titel verteidigen. Was aber ist in den vergangenen vier Wochen passiert?
Keine Fußball-Weltmeisterschaft erntet so viel Kritik vor und während des Turniers wie die Glitzer-Show in Katar. Wie ein dunkler Schatten legen sich die Menschenrechtsverstöße, die verfolgten LGBTQIA+-Menschen, die ausgebeuteten Arbeiter im Emirat über den Fußball. Halten ihn fest im Griff. Lässt dieser Schatten den Fußball je wieder los? Vermutlich nicht. Zumindest nicht den Welt-Fußball. Daran trägt FIFA-Präsident Gianni Infantino eine große Mitschuld. Er wird zu Katars Pressesprecher und feiert "die beste WM aller Zeiten". Ein Turnier, das viele sportliche Highlights bietet, aber eben nicht für jeden ist.
Im Finale kommt es nun - ausgerechnet am Internationalen Tag der Migranten - zum gigantischen Showdown der Superstars, der alle Probleme überstrahlen soll. Kann sich Lionel Messi, der mit dem Anpfiff Lothar Matthäus den Rekord der meisten WM-Spiele (26) weggeschnappt hat, mit 35 Jahren doch noch zum ultimativen König krönen? Oder macht der junge Prinz Kylian Mbappé ihm einen Strich durch die Rechnung und fährt mit zarten 23 Jahren schon seine zweite Weltmeistertrophäe ein? Neben dem Endspiel zwischen Frankreich und Argentinien bieten die vier Wochen in der Wüste die folgenden Highlights.
Gianni Infantino spielt ein perfides Spiel
Der FIFA-Präsident weiß ganz genau, was zu tun ist. Weil der Beginn der WM urplötzlich und nur wenige Tage nach dem Ende der letzten Ligaspiele kommt, lenkt Gianni Infantino die Aufmerksamkeit der Welt mit einer furiosen Rede am Vorabend des Eröffnungsspiels auf das Turnier in Katar. Infantino fühlt alles: Er fühlt katarisch, arabisch, afrikanisch, queer, behindert, als Gastarbeiter und - auf Nachfrage - auch als Frau. Der Schweizer gibt sich als Jesus und will, dass sich Europa in den nächsten 3000 Jahren entschuldigt. Die Welt schüttelt den Kopf, Infantino freut sich.
Ihm geht es allein um die Aufmerksamkeit und nicht die lästigen Nachfragen aus Europa, die er allesamt vom Tisch bügelt. Alle schauen nach dieser bizarren Rede auf das Turnier. Kurze Zeit später fühlt er nichts mehr: Die FIFA lässt die "One Love"-Binde verbieten. Infantino sieht alle Spiele im Stadion. Er ist der Beckenbauer der WM 2022. Und verkündet am Ende das, was vom ihm zu erwarten war: Die WM in Katar ist die beste WM aller Zeiten. Die nächste WM wird sogar noch besser. Gigantischer ohnehin. Den dunklen Schatten über der FIFA und dem Turnier will er nie vertreiben. Den wirft ohnehin nur noch Europa, der Rest der Erdkugel fiebert mit den teilnehmenden Mannschaften in Katar.
Das DFB-Debakel bleibt ohne Konsequenzen
Die DFB-Elf gibt den Weltmeistertitel als Ziel aus und reist nach einer enttäuschenden Vorrunde direkt wieder ab. Im Auftaktspiel gegen Japan bricht das Team von Bundestrainer Hansi Flick nach den Auswechslungen von Ilkay Gündogan und Jamal Musiala komplett ein. Die Defensive zeigt sich wenig stabil, das Flick'sche System anfällig. Weil Niclas Füllkrug gegen Spanien trifft, lebt die Hoffnung noch einmal kurz auf, doch gegen Costa Rica folgt das Aus. Die Kontroverse um die "One Love"-Armbinde entzweit die Mannschaft, die sich in einem Resort am nördlichen Rand der Halbinsel abschottet und nur zu arroganten Auftritten auf den Pressekonferenzen in die Hauptstadt einschwebt.
Sie verlassen Katar gedemütigt und beinahe unbeliebter als der Gastgeber. Auch eine Leistung. Die Konsequenzen nach dem zweiten Vorrunden-Aus in Folge sind überschaubar: Oliver Bierhoff verlässt nach 18 Jahren den DFB, Trainer Hansi Flick bleibt und will wenig ändern. Manuel Neuer bricht sich auf einer Skitour sein Bein, Rücktritte gibt es bislang keine.
Brasilien tanzt und zerbricht
Als einer der Favoriten starten die Brasilianer um Superstar Neymar ins Turnier. Dann liefert Stürmer Richarlison im ersten Spiel mit seinem Seitfallzieher das Tor des Turniers, aber Neymar bekommt auf den Knöchel und fällt verletzt aus. Egal, die Seleção marschiert ins Achtelfinale und tanzt sich dort mit den vielleicht besten 45 Minuten der WM-Geschichte gegen Südkorea zum Topfavoriten. Doch nur eine Partie später lernen die Männer in Gelb-Blau die Brutalität des Fußballs kennen, als sie tragisch im Elfmeterschießen des Viertelfinals gegen Kroatien ausscheiden.
Neymars Tränen gehen um die Welt. 20 Jahre nach dem letzten Triumph wird es wieder nichts mit dem WM-Titel für Brasilien. Dabei hat sich Pelé das so sehr gewünscht. Die Legende erlebt Brasiliens WM im Krankenhaus. Brasilien bangt um ihn. In Doha ist er kurzzeitig das große Gesprächsthema. Mit dem Ausscheiden der Seleção verschwindet er aus den internationalen Schlagzeilen.
Iran zwischen Mut und Furcht
Die Geschichte der Iranerinnen und Iraner ist die wohl mutigste dieser Weltmeisterschaft. In der Heimat werden Frauen und Männer auf den Straßen zusammengeprügelt, inhaftiert und umgebracht - aber trotzdem trauen sich vielen von ihnen, in Katar die Protest-Parolen laut um die ganze Welt zu senden. Irans Nationalmannschaft verweigert in der ersten Partie das Singen der Hymne.
Anschließend droht das Mullah-Regime wohl ihren Familien, und die Kicker singen geknirscht mit. Teheran soll auch Sicherheitskräfte nach Katar geschickt haben, die mit dem Emirat kooperieren: In Spiel zwei und drei der Iraner werden die Symbole des Widerstands an den Eingängen eingesackt, Fans fürchten sich vor "Spionen".
England scheitert erneut tragisch
"It's coming home…", heißt es vor dem Turnier mal wieder auf der Insel. Und als Vize-Europameister gehört England natürlich zum Kreis der Favoriten, trotz miserabler Nations-League-Darbietungen. In Katar legen die Three Lions beeindruckend los, fegen den Iran mit 6:2 vom Platz. Teenager Jude Bellingham von Borussia Dortmund reift zum Boss im Mittelfeld, und nach dem klaren 3:0 im Achtelfinale gegen Senegal rechnen sich Harry Kane und Co. durchaus etwas gegen Frankreich im Viertelfinale aus.
Doch dann holt sie eine alte Tragödie ein, der Fluch von 1966 vielleicht sogar. Zwar ist es kein Elfmeterschießen, aber kurz vor Schluss versagt Kane vom Punkt, und wieder einmal bringt England keine Trophäe mit nach Hause.
Cristiano Ronaldo im freien Fall
Cristiano Ronaldo stürzt ab. Innerhalb weniger WM-Spiele erlebt die Nationalmannschaftskarriere des fünffachen Weltfußballers einen dramatischen Sinkflug. Das, was ihm bereits auf Vereinsebene widerfahren ist, geschieht nun auch bei der WM: CR7 ist längst verzichtbar. Der 37-Jährige trägt nur noch die Erinnerungen mit sich herum, wird in den Stadien hysterisch gefeiert, kann aber dem Spiel seiner Mannschaft nichts Überraschendes hinzufügen.
Nach einem Elfmetertor und dem Versuch eines Tordiebstahls während der Gruppenphase findet er sich bei den K.-o.-Spielen auf der Bank wieder. Ob seine Einwechslung beim Ausscheiden gegen Marokko das letzte Länderspiel seiner ewigen Karriere sein wird, steht noch in den Sternen. Auch einen neuen Klub hat er nach seinem provozierten Rauswurf bei Manchester United noch nicht gefunden.
Die Sensation des Turniers führt in den Vergnügungspark
Der 22. November wird zum Feiertag in Saudi-Arabien. Im Lusail Iconic Stadium, dem heutigen Final-Stadion, kommt es zur größten Sensation des Turniers. Innerhalb weniger Minuten bringt die Nationalmannschaft des Landes die goldene Schüssel zum Ausrasten. Es ist, wie sich später herausstellen wird, ein Fehler im System. Saudi-Arabien besiegt den großen Turnierfavoriten Argentinien mit 2:1. "Saudi-Arabien kann weit kommen, ganz weit", sagt Salah Al-Sheri, einer der Torschützen, nach dem Spiel.
Er ist nach einer epischen, über 51 Minuten andauernden Verteidigungsschlacht in der zweiten Halbzeit genauso aufgeputscht wie die Fans, die noch lange vor dem Stadion feiern und bei ihrer Rückkehr ins Nachbarland die Vergnügungsparks des Landes offen finden. Kronprinz Mohammed bin Salman überhäuft die Helden zwar nicht mit Gold, aber immerhin mit feinsten Edelautos. Die nächsten beiden Spiele gegen Polen und Mexiko gehen verloren. Das Turnier endet früh.
Robert Lewandowski rührt sich selbst zu Tränen
Gegen Mexiko verschießt Robert Lewandowski einen Elfmeter. Der große Traum des ehemaligen Bundesliga-Torjägers droht wieder zu platzen. Er will nur ein Tor bei einer WM schießen. Im nächsten Spiel im Education City Stadium rührt sich der Pole dann selbst zu Tränen. In seinem fünften WM-Spiel gelingt ihm sein erster Treffer. Gegen Saudi-Arabien hat er sogar noch eine weitere Chance, doch sein Chip in den letzten Minuten will nicht im Netz landen.
Trotz einer Niederlage gegen Argentinien qualifizieren sich die Polen im Fernduell mit Mexiko, die gegen Saudi-Arabien ohne Glück anrennen, fürs Achtelfinale. Im Achtelfinale ist Schluss. Frankreich einfach zu stark für die offensivscheue Bialo-Czerwoni. In der letzten Minute trifft Lewandowski noch einmal. Seine Zukunft in der Nationalmannschaft steht in den Sternen. Er ist einer von vielen prägenden Figuren der letzten Jahre, für die das Turnier einen Endpunkt markieren könnte.
Louis van Gaals letzter Trick
Die Trainerlegende will es noch einmal wissen. Die Pressekonferenzen des ehemaligen Bayern-Trainers sind Feuerwerke. Van Gaal knutscht seine Spieler, erklärt wiederholt, wie er den Fußball neu erfand, und träumt vom Weltmeister-Titel zum Abschluss seiner Amtszeit als Bondscoach. In einem epischen Viertelfinale gegen Argentinien dreht die Elftal ein 0:2. Die Tore erzielt der ehemalige Wolfsburger Wout Weghorst, der erst von langen Bällen und in der elften Minute der Nachspielzeit von einem wilden Freistoßtrick profitiert.
Im Elfmeterschießen versagen die Nerven. Im Anschluss beendet der überforderte Schiedsrichter Antonio Mateu Lahoz seine Kartenorgie. Niemand weiß, ob er am Ende 15, 16 oder 18 Gelbe Karten verteilt hat. Die ohne große Superstars angetretenen Niederländer fahren nach Hause, und Louis van Gaal verlässt die Weltbühne. Eine Rückkehr hält er sich offen.
Die alten Männer treten ab
Die Weltmeisterschaft ist auch ein Turnier der Abschiede. Lionel Messi kündigt nach dem gewonnenen Halbfinale seinen Rücktritt aus der argentinischen Nationalmannschaft an. Er wird nur noch dieses eine Finale spielen. Auch sein ewiger Rivale Cristiano Ronaldo wird nicht mehr bei einer WM antreten.
Mit Pepe tritt ein weiterer Portugiese ab, und sie sind nicht allein: Torwart-Legende Guillermo Ochoa, der Franzose Olivier Giroud, Spaniens Orchesterleiter Sergio Busquets oder Kroatiens Jahrhundertspieler Luka Modric verabschieden sich von der größten Bühne. Nur Manuel Neuer denkt nicht daran.
Was war sonst noch los?
Die belgische Nationalelf, die "goldene Generation" um Kevin De Bruyne, Eden Hazard und Romelu Lukaku, muss ihren Ruf als Geheimtipp endgültig begraben. Nach einem Auftaktsieg scheiden die Roten Teufel noch in der Vorrunde aus. Katar kann sportlich wie erwartet nicht mithalten, sorgt dafür mit einem mysteriösen, wohl aus dem Libanon eingekauften Fanblock voller lauterstarker Stimmungsmacher für Aufsehen. Palästina spielt überhaupt nicht mit, aber dennoch sieht man die schwarz-grün-weiß-rote Flagge überall in Katar: Viele vertriebene Palästinenser siedeln nach 1948 und 1967 in das Emirat über, die nachfolgenden Generationen identifizieren sich weiterhin stark mit der Heimat ihrer (Groß)Eltern und wollen nach den Jubelstürmern der Saudis, Marokkaner und Tunesier ebenfalls an dem arabischen Turnier teilhaben. Die Atlaslöwen bieten überhaupt eine grandiose Show, als erstes afrikanisches und als erstes arabisches Team ziehen sie ins Halbfinale ein. Mehr dazu lesen sie hier, hier und hier.
Somit darf die WM in Katar durchaus behaupten, einige tolle sportliche Geschichten geschrieben zu haben. Doch zu welchem Preis? Auf dem Rücken der Misshandelten und Verfolgten feiern Menschen aus aller Welt eine Party. Und das Emirat versucht mit aller Macht, das Elend mit Glitzer zu übertünchen, sich in der internationalen Gesellschaft reinzuwaschen. Auch am Internationalen Tag der Migranten.
Die Menschenrechtslage im Land verbessert sich durch diese WM nicht, der Fußball wird für immer beschmutzt bleiben (ohne zuvor blitzsauber gewesen zu sein). Wenzel Michalski, Deutschland-Direktor von Human Rights Watch, fasst es in der "Welt am Sonntag" passend zusammen. "Die FIFA und die katarische Regierung haben sich nicht einen Zentimeter bewegt." Beiden seien die Rechte der Menschen "völlig egal". Das System Infantino wird daran in den nächsten Jahren nichts ändern. Auch Michalski kommt zu dem Schluss: "Alle, die gesagt haben, die Ausrichtung in dem Land würde zu etwas Gutem führen und Reformen vorantreiben, haben Unrecht behalten."
Quelle: ntv.de