Spracherwerb in Afrika Babys in Ghana hören bis zu sechs Sprachen
04.03.2025, 19:24 Uhr Artikel anhören
In Ghana geborene Kinder hören bis zu sechs verschiedene Sprachen.
(Foto: Ute Grabowsky/ picture alliance/photothek)
In Deutschland wird oft über Mehrsprachigkeit sowie deren Vor- und Nachteile diskutiert. In Ghana hören Babys bis zu sechs verschiedene Sprachen, wie eine Untersuchung von Sprachwissenschaftlern zeigt. Es ist die erste dieser Art, die zudem die gängigen Vorurteile zur Mehrsprachigkeit infrage stellt.
Während die meisten Kinder in Deutschland einsprachig aufwachsen, ist Mehrsprachigkeit in anderen Ländern die Norm. Wie viele Kinder bi- oder multilingual groß werden, darüber gibt es keine globalen Statistiken - nun aber liefert Feldforschung ein paar Antworten. In Accra, der Hauptstadt des westafrikanischen Landes Ghana, hören Babys zwei bis sechs Sprachen, wie ein Team um die Potsdamer Psycholinguistin Natalie Boll-Avetisyan und den Linguisten Paul O. Omane herausgefunden hat.
"Wir sind die Allerersten, die den Spracherwerb in Afrika im Babyalter experimentell erforschen", sagt Boll-Avetisyan. Überhaupt sei die Forschung dazu wenig divers. So gebe es aus vielen nicht westlichen Ländern wie etwa Indien, wo 1,4 Milliarden Menschen leben, nur anekdotische Berichte über stark ausgeprägten Multilingualismus. Die wissenschaftliche Literatur beschränkt sich laut einer Untersuchung aus dem Jahr 2022 auf weniger als zwei Prozent aller in der Welt gesprochenen Sprachen.
"Das ist teilweise ein Ressourcenproblem, denn es braucht ein Minimum an Geld, etwa für Ausstattung mit Laptops und Lautsprechern", sagt Boll-Avetisyan. Das stehe der Spracherwerbsforschung in vielen Ländern nicht zur Verfügung - wenn es sie dort überhaupt gebe. Forschende aus reichen, westlichen Ländern wiederum scheuten vor Feldforschung etwa in Teilen Asiens, Afrikas und Südamerikas zurück, weil sie dort keine kontrollierten Forschungsbedingungen schaffen können. "Die Idee ist: Man braucht immer einen Laborraum mit weißen Wänden, abgedunkelt, und nur einen Stimulus, damit das Baby nicht abgelenkt wird."
"Jeder spricht seine eigene Sprache weiter"
Für die nun erschienene Studie untersuchte Omane den Sprachinput in den frühen Lebensmonaten von 121 Kindern in Accra - angepasst an die lokalen Gegebenheiten und die Kultur. Dabei stellte er fest: Je mehr Bezugspersonen ein Baby hatte, desto mehr Sprachen hörte es normalerweise.
Da viele Kinder in mehrsprachigen Mehrgenerationen- und Mehrfamilienhaushalten aufwachsen, spielen neben den Eltern auch meist andere Verwandte sowie Nachbarn eine wichtige Rolle im Leben der kleinen Kinder. "Die Ghanaer sind sehr multiethnisch und multikulturell und heiraten auch untereinander", erläutert Boll-Avetisyan. "Dabei muss niemand seine Identität aufgeben, sondern jeder spricht seine eigene Sprache weiter - auch mit den Kindern."
So komme es, führt Omane aus, dass die Kinder in diesen Gemeinschaften von Beginn von einem reichen Spektrum an sprachlichem Input umgeben seien. Neben den lokalen Sprachen wie Akan, Ga und Ewe, welche die Bezugspersonen direkt mit den Kindern sprechen, bekämen die Kinder auch indirekten Input auf Englisch über Kanäle wie das Fernsehen. Insgesamt seien pro Kind zwei bis sechs Sprachen gezählt worden.
Mehrsprachigkeit ohne Entwicklungsnachteile
"Wir gehen davon aus, dass die Kinder all diese Sprachen auch lernen", sagt Boll-Avetisyan. Offen bleibe vielleicht, wie gut die Sprachfertigkeit in den verschiedenen Sprachen jeweils sei. Aber angesichts der vielen Vorteile, die Mehrsprachigkeit mit sich bringe, stelle man sich in der Linguistik schon länger die Frage, warum man am Monolingualismus als Ideal festhalten sollte.
"So eine Idee, dass die Kinder die verschiedenen Sprachen nicht richtig lernen und es zu einer Sprachverwirrung kommt, kennen die Menschen in Afrika gar nicht", führt die Spracherwerbsforscherin aus. Dort wundere sich niemand darüber, wenn ein Kind mehrere Sprachen höre und erlerne. In Deutschland hingegen halte sich hartnäckig das Vorurteil, dass Mehrsprachigkeit Entwicklungsnachteile mit sich bringe, obwohl die Forschung dem komplett widerspreche.
Um Nachwuchsforschende in Subsahara-Afrika, Süd- und Südostasien sowie Mittel- und Südamerika zu informieren und zu motivieren, in ihren Ländern mehr über den Spracherwerb von Kindern herauszufinden, fand sich ein internationales Konsortium, an dem die Potsdamer Forscherin beteiligt ist. Das Team organisierte eine online durchgeführte Sommerschule zu dem Thema. Hunderte Studierende wurden dabei über experimentelle quantitative Methoden der Spracherwerbsforschung unterrichtet und mit aktuellen Forschungsthemen vertraut gemacht.
Quelle: ntv.de, Doreen Garud, dpa