
Ein chronischer Erschöpfungszustand ist typisch für Long Covid.
(Foto: IMAGO/USA TODAY Network)
Forschende identifizieren Biomarker, mit denen Long Covid diagnostiziert werden könnte. Wissenschaftler halten die Studienergebnisse für sehr relevant, sehen bis zu einer praktischen Umsetzung aber noch weiteren Forschungsbedarf.
Wie viele Menschen tatsächlich nach einer Sars-CoV-2-Infektion an Long Covid leiden, ist nicht bekannt. Die Initiative Long Covid Deutschland schätzt, dass ein bis zwei Prozent eine schwere, chronische Erkrankung entwickeln. Es gibt aber auch Studien, wonach fünf bis sechs Prozent der Infizierten betroffen sind, manchmal werden sogar zweistellige Werte genannt.
Ein Problem bei der Long-Covid-Thematik bestehe darin, so Clara Lehmann, Leiterin der Post-Covid-Ambulanz an der Uniklinik Köln, dass "es derzeit keine eindeutigen Biomarker oder radiologischen Befunde gibt, die eine klare Diagnose von Long Covid ermöglichen". Das könnte sich jetzt aber geändert haben. Denn ein internationales Team von Forschenden hat offenbar Biomarker gefunden, mit denen Long Covid von anderen Erkrankungen unterschieden werden kann, die in zeitlicher Nähe mit Covid-19 auftreten, aber nicht ursächlich damit zusammenhängen. Die Ergebnisse ihrer Arbeit haben sie im Fachjournal "Science" vorgestellt.
Das Team unter der Leitung von Forschenden der Universität Zürich untersuchte über 6500 Proteine in den Blutseren von 113 Covid-19-Infizierten und 39 gesunden Personen. Bei den Infizierten, von denen 40 Long-Covid-Symptome entwickelten, erfolgte eine Folgemessung nach sechs und zwölf Monaten. Die Blutserumproteine der Long-Covid-Betroffenen zeigten Veränderungen, die mit einer Dysregulation des Komplementsystems – einem Teil der angeborenen Immunabwehr – einhergingen.
Blutgerinnung und Entzündung außer Kontrolle
Weiterhin identifizierte das Team Marker für Gewebeschäden und eine veränderte Blutgerinnung, die zusammenhängend auf eine sogenannte thromboinflammatorische Reaktion schließen lassen. Dabei handelt es sich um einen krankhaften Prozess, bei dem normale Abläufe der Blutgerinnung und Entzündung außer Kontrolle geraten. In Folge können unter anderem Thrombosen entstehen.
Laut den Forschenden können die identifizierten Prozesse der erhöhten Komplementsystemaktivierung sowie der thromboinflammatorischen Reaktion nicht nur für die Diagnose von Long Covid verwendet, sondern eventuell auch als Angriffspunkt für eine Therapie genutzt werden.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die für das Science Media Center (SMC) die Studienergebnisse bewerteten, sehen in der Arbeit einen wichtigen Schritt in Richtung Diagnostik, halten aber noch weitere Studie für nötig, bevor eine praktische Umsetzung möglich ist.
Bisherige Hypothesen bestätigt
Maria Vehreschild betont, die Daten der Arbeit unterstützten bisher aufgestellte Hypothesen zur Entstehung von Long Covid. Sie alle gingen davon aus, "dass eine Fehlregulation des Immunsystems zu einer Entzündungsreaktion führt, die die typischen Beschwerden verursacht", erklärt die Leiterin des Schwerpunkts Infektiologie an der Medizinischen Klinik II des Universitätsklinikums Frankfurt. "Dabei werden Herpesviren aktuell als eine wahrscheinliche Ursache für diese Fehlaktivierung vermutet." An den publizierten Daten sehe man aber auch, "dass die Trennschärfe nicht in jedem Fall eine eindeutige Trennung zwischen gesunden Freiwilligen und Long-Covid-Patienten erlaubt".
Leo Nicolai weist auf eine weitere Einschränkung hin. Er geht davon aus, dass es sich bei der untersuchten Kohorte um Patienten handelt, die von Anfang an einen schweren Covid-19-Verlauf hatten. Der Forschungsgruppenleiter an der Medizinischen Klinik und Poliklinik I am Klinikum der Universität München sieht andere Subgruppen von der Untersuchung nicht abgedeckt. Dazu gehörten solche, die nach einer milden Erkrankung schweres Long Covid entwickelt haben. "Das Gleiche gilt für Patienten, welche zwölf oder 24 Monate nach der akuten Erkrankung noch Beschwerden haben."
"Überschießende Komplementaktivierung"
Die wichtigste Erkenntnis der Studie ist laut Gabor Petzold der Nachweis veränderter Konzentrationen verschiedener Eiweißstoffe. Petzold leitet am Universitätsklinikum Bonn die Sektion Vaskuläre Neurologie. Besonders relevant als diagnostische Marker stellten sich hier Proteine des sogenannten Komplementsystems und des Gerinnungssystems dar, ergänzt Vehreschild.
Informationen finden Sie unter anderem auf der Seite des Robert-Koch-Instituts und des Bundesgesundheitsministeriums. Dort sind auch Rehakliniken und Selbsthilfegruppen verlinkt. Hilfreich ist auch die Patientenleitlinie zu Long- und Post Covid, die Christian Gogoll gemeinsam mit anderen Experten und Expertinnen verfasst hat.
Einen Erklärfilm zu Long Covid der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin können Sie sich hier anschauen.
"Das Komplementsystem ist Teil der körpereigenen Immunabwehr und das Gerinnungssystem reguliert die Blutgerinnung", erklärt Petzold. "Beide Systeme werden beim Vorliegen von Entzündungen und Infektionen in der Regel aktiviert. Dies bedeutet indirekt, dass die erhöhten Biomarker auf eine chronische Entzündungsreaktion hinweisen. Diese Interpretation wird durch die Tatsache unterstützt, dass bei den betroffenen Patient:innen auch erhöhte Antikörper gegenüber dem Cytomegalievirus und dem Epstein-Barr-Virus gefunden wurden. Beide gehören zur Familie der Herpesviren."
Die Ursachen dieser "überschießenden Komplementaktivierung" bei Long Covid habe die Studie nicht abschließend klären können, so Petzold. "Allerdings fanden sich Hinweise darauf, dass eine Reaktivierung vorhandener Herpesviren im Körper, unter anderem auch des bei der Entstehung der Multiplen Sklerose und des chronischen Fatigue-Syndroms möglicherweise beteiligten Epstein-Barr-Virus, zu dieser Aktivierung beiträgt."
Noch nicht praxistauglich
So wertvoll die deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Ergebnisse der Studie einschätzen, mahnen sie zur Geduld. Bisher gäbe es noch keinen schnell verfügbaren diagnostischen Test, der die beschriebenen Veränderungen adressiere, sagt Andreas Stallmach. Er ist Direktor für Innere Medizin IV und Leiter des Long-Covid-Zentrums des Universitätsklinikums Jena. Aufgrund der kleinen untersuchten Gruppe sei zudem keine Differenzierung in die verschiedenen Subgruppen der Erkrankung möglich.
Die geringe Anzahl der analysierten Blutseren lasse auch nicht zu, diese Biomarker als spezifische Diagnoseinstrumente einzusetzen, sagt Clara Lehmann. "Es bleibt auch unklar, ob es sich um einen Covid-19-spezifischen Mechanismus handelt und inwieweit er auf andere Erreger übertragbar ist."
Die hier identifizierten Biomarker seien in Standardlaboren nicht etabliert, die Erkenntnisse könnten daher nicht direkt in die klinische Praxis überführt werden, sagt Maria Vehreschild. "Allerdings können sie eine große Hilfe sein, wenn es zum Beispiel darum geht, passende Patientinnen und Patienten für klinische Studien auszuwählen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, reaktivierte Herpesviren zu behandeln, um Long-Covid-Symptome zu reduzieren. Ebenso können die hier identifizierten Biomarker Hinweise geben, an welchen Stellen Medikamente ansetzen müssten, um die bei Long Covid entgleiste Immunreaktion wieder in den Griff zu bekommen."
Quelle: ntv.de