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Epidemiologe zum Lockdown "Im Januar kann es nochmal kritisch werden"

Jetzt gilt es durchzuhalten, bis alle geimpft sind, sagt Epidemiologe Timo Ulrichs.

Jetzt gilt es durchzuhalten, bis alle geimpft sind, sagt Epidemiologe Timo Ulrichs.

(Foto: picture alliance/dpa)

Das Infektionsgeschehen in Deutschland bleibt besorgniserregend. Am vergangenen Freitag meldete das Robert-Koch-Institut (RKI) mit 29.875 Fällen einen Rekordwert. Und auch die 7-Tage-Inzidenz liegt mit 176,4 Fällen auf 100.000 Einwohner auf einem neuen Höchststand. Bund und Länder haben nun reagiert und einen strengen Lockdown verhängt. Viel zu spät, sagt Timo Ulrichs. Denn bereits im November sei klar gewesen, dass der Wellenbrecher-Lockdown nicht funktioniere. Woran das liegt und wie es Mitte Januar weitergeht, erklärt der Epidemiologe im Gespräch mit ntv.de.

ntv.de: Warum sind die Infektionszahlen trotz Teil-Lockdowns immer noch so hoch?

Timo Ulrichs: Die Gründe dafür sind vielfältig, hängen aber auch mit der Jahreszeit zusammen. Die Menschen halten sich eher in Innenräumen auf, sind dichter zusammen. Das Immunsystem ist bei den niedrigen Außentemperaturen in seiner Reaktion verlangsamt. Es gibt weniger UV-Einstrahlung, die das Virus treffen könnte, wenn es in Tröpfchen herumschwirrt. Und dann ist da auch noch unsere Pandemie-Müdigkeit. Die Risikowahrnehmung, dass die Pandemie noch einmal schlimm werden könnte, hat im Spätsommer stark abgenommen.

Hat der Teil-Lockdown also gar nichts gebracht?

Zumindest hat er nicht funktioniert wie erhofft. Durch den Teil-Lockdown wurde die Infektionswelle zwar ein bisschen gebremst, aber eben nicht gebrochen. Sie ist einfach drüber geschwappt. Und auch die verschärften Maßnahmen, die leider erst Ende November kamen, führten zu keiner Trendumkehr. Das liegt in erster Linie daran, dass die Kontakte nicht in einem ausreichenden Maße reduziert wurden. Das Virus konnte von der einen Gruppe zur anderen springen. Deshalb haben wir jetzt die hohen Zahlen, die weiter steigen.

Bereits im November war abzusehen, dass die Zahlen mit dem Wellenbrecher-Lockdown nicht so stark sinken wie erwartet. Hätten Bund und Länder viel früher härter durchgreifen müssen?

Ja, das hat die Politik versäumt. Die Bundesregierung hatte allerdings schon Mitte November Vorschläge für eine stringente Verschärfung vorgelegt. Die lehnten die Bundesländer aber ab - nicht wegen irgendwelcher inhaltlicher Mängel, sondern mit der Begründung, sie seien an deren Entstehung nicht beteiligt gewesen. Das führte zu einer gefährlich langen Verzögerung der Entscheidungen, währenddessen füllten sich Krankenhäuser und Intensivstationen mit Corona-Patienten.

Abgesehen von den problematischen Bund-Länder-Kompetenzfragen, gab es auch andere Gründe, warum die Politik erst so spät auf die zweite Welle angemessen reagiert hat?

Das Problem war bestimmt auch, dass sich die Politik nicht getraut hat, noch einmal einen harten Lockdown zu verhängen. Dabei zeigen die Umfragen eigentlich ein großes Verständnis in der Bevölkerung für solche Maßnahmen. Deshalb ist es schade, dass man nicht so beherzt und frühzeitig Maßnahmen ergriffen hat, wie das noch im Frühling der Fall war. Andererseits trifft nicht nur die Politik die Schuld. Wir alle haben den Ernst der Lage nicht richtig gesehen und somit nicht immer verantwortungsvoll gehandelt. Die lockeren Maßnahmen wurden eben auch ausgenutzt.

Weihnachten wollen viele Menschen mit ihren Eltern und Großeltern feiern. Geht man da nicht ein zu hohes Risiko ein?

Die Ausnahmen zu Weihnachten sind natürlich ein Risiko. Die Quittung für das, was wir uns mit dieser Lockerung über die Feiertage leisten werden, kriegen wir dann Mitte Januar: mehr Infizierte, mehr Patienten auf den Intensivstationen und dann entsprechend zeitversetzt mehr Todesfälle. Das sollte man sich immer ganz klar vor Augen halten.

Sollte man also auf ein großes gemeinsames Fest dieses Jahr verzichten?

Das wäre natürlich am besten. Eine Möglichkeit wäre auch virtuell zu feiern. Man kann das Ansteckungsrisiko aber auch minimieren, indem man die Tage vor Weihnachten in eine Vorquarantäne geht. Das bedeutet: alles runterfahren, nur das Nötigste einkaufen und auf Kontakte verzichten. Das Risiko ist zwar dann immer noch nicht gleich null, aber immerhin kalkulierbarer.

Wie geht es nach dem 10. Januar weiter?

Die äußeren Bedingungen werden sich bis dahin nicht geändert haben. Es ist dann immer noch Winter. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir Lockdown-Bedingungen haben werden, bis es wieder warm wird. Ein langsames Hochfahren ist möglich, wenn die Neuinfiziertenzahlen unter die kritische Marke von 50 Fällen auf 100.000 Einwohner fallen. Ist das der Fall, können Gesundheitsämter die Infektionen wieder besser nachverfolgen und die Ausbreitungswelle unter Kontrolle halten. Jetzt laufen wir dem Ganzen nur hinterher.

Könnten wir mit den Lockerungen nach dem Lockdown in eine dritte Welle schlittern?

Die Gefahr besteht durchaus. Jede Lücke, die wir haben, wird von dem Virus ausgenutzt. Deswegen müssen wir vorsichtig bei den Lockerungen sein. Zwar sollte wieder alles aufmachen, aber kontrolliert. Das hört sich etwas vage an, aber noch haben wir ja auch keine Zahlen und Trends für die Zeit ab Mitte Januar. Die neusten Maßnahmen sind zwar lange überfällig, aber gut. Jetzt gilt es, solange durchzuhalten, bis wir unsere andere Waffe in der Hand halten: das Impfen. Insbesondere ab Mitte Januar, also nach dem Lockdown, kann es noch einmal kritisch werden. Denn selbst wenn die Ersten immun sein werden, sollten Maßnahmen trotzdem eingehalten werden. Wir sollten nicht riskieren, dass es noch während der Durchimpfung zu weiteren Corona-Opfern kommt.

Timo Ulrichs ist Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie und Professor für Globale Gesundheit an der Akkon-Hochschule für Humanwissenschaften.

Timo Ulrichs ist Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie und Professor für Globale Gesundheit an der Akkon-Hochschule für Humanwissenschaften.

(Foto: Timo Ulrichs)

Wann ist die Pandemie mit dem Impfstoff besiegt?

Den epidemiologischen Effekt der Durchimpfung werden wir sehen, wenn auch die jüngeren Bevölkerungsgruppen geimpft werden. Das braucht allerdings noch Zeit. Am Beispiel Berlins kann man es leicht überschlagen. In der Hauptstadt wird es sechs Impfzentren geben. Pro Tag können dort insgesamt 20.000 Menschen geimpft werden. Bei 3,2 Millionen Einwohnern dauert es rund 160 Tage, bis alle geimpft sind, also mehr als fünf Monate. Hinzu kommt, dass zweimal innerhalb von zwei bis vier Wochen geimpft werden muss und der Schutz erst rund eine Woche nach der zweiten Impfung einsetzt.

Können wir uns also nach Ihrer Rechnung auf den Sommer freuen?

Ich bin ganz zuversichtlich, dass wir Mitte des Jahres Richtung Sommer diese Pandemie beenden können. Dafür müssen alle mitmachen. Es ist aber auf jeden Fall zu schaffen.

Mit Timo Ulrichs sprach Hedviga Nyarsik

Quelle: ntv.de

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