Frage & Antwort Warum haben wir Gefühle?
20.08.2013, 07:21 Uhr
(Foto: allyaubry/Wikipedia/CC BY 2.0)
Ärger, Wut, Traurigkeit: Wer braucht das schon? Auf Freude und Glück dagegen möchte man nicht verzichten. Wer wissen will, wozu Gefühle gut sind, erhält spannende Antworten. Manchmal sind bestimmte Gefühle einfach in Mode.
Als ich kürzlich Ihren Artikel las zu der Frage, warum wir weinen, wenn wir traurig sind, kam mir eine andere Frage in den Sinn: Warum haben wir überhaupt Gefühle? Ginge es nicht auch ohne? (fragt Daniela W. aus Ratingen)
"Auf diese Frage", sagt Bettina Hitzer, Emotionshistorikerin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, "gibt es viele Antworten, die auch historisch sehr unterschiedlich sind." Doch Hitzer weiß, welche Erklärung für unsere Gefühlswelt unter Neurowissenschaftlern und Psychologen heutzutage favorisiert wird: "Gefühle helfen dabei, Entscheidungen zu treffen. Es reicht nicht aus, einen Zusammenhang zu verstehen. Wir brauchen unbedingt Gefühle, um eine Richtung zu finden und um Informationen, die wir haben, zu bewerten. Gerade für diese Bewertung sind die Emotionen zuständig."
Zu erkennen, wie es uns oder auch unserem Gegenüber in bestimmten Situationen geht, ist also wichtig, um herauszufinden, wie wir am besten weiter vorgehen, wie wir handeln, welchen Weg wir wählen. Gern spricht man in diesem Zusammenhang von Emotionaler Intelligenz. "Die hilft uns nicht nur bei Entscheidungen weiter, sondern überhaupt dann, wenn wir uns orientieren müssen in der Gesellschaft", sagt Hitzer. "Sie gibt uns Hinweise, wie wir uns verhalten sollen, mit wem wir zum Beispiel Umgang haben sollten oder eben auch nicht."
Das führt schon zu der zweiten Funktion von Gefühlen, die Hitzer benennt: Gefühle können uns auch schützen, wenn wir sie richtig zu deuten lernen. "Sie warnen vor Gefahr", sagt die Expertin. "Auch das ist eine Form der Orientierung."
Angeboren oder angelernt?
Das am deutlichsten vor Gefahr warnende Gefühl ist sicherlich die Angst. Doch wie wir wissen – diese Erfahrung dürfte jeder schon gemacht haben –, fürchten sich nicht alle Menschen vor denselben Dingen. Folgt man der Argumentation von Emotionshistorikern, ist das nicht weiter verwunderlich. Denn wovor wir Angst haben, ist nicht genetisch festgelegt, sondern angelernt. "Es gibt eine angeborene Fähigkeit zum Fühlen", erläutert Hitzer. "Aber die Gefühle selbst sind nicht angeboren, sondern werden immer erlernt."
Konkret bedeutet das, dass selbst die Angst vor wilden Tieren – etwa vor einer Schlange – nicht seit Anbeginn der Menschheit instinktähnlich in uns angelegt ist. "Man sagt gern, diese Angst sei ein genetisches Programm, sie sei also angeboren", erklärt Hitzer. "Aber das lässt sich so gar nicht nachweisen. Als Emotionshistorikerin sage ich, es ist nicht zwingend, dass man sich vor der Schlange fürchtet. Die Schlange an sich ist nicht der Auslöser für die Angst. Vielmehr sind es die Informationen, die gegeben wurden, als man einer Schlange begegnet ist. So hat man gelernt, dass man vor der Schlange Angst haben sollte."
Gefühle sind der Mode unterworfen
Dass man Gefühle erlernen kann, lässt einen folgenreichen Schluss zu: Man kann sie auch wieder "verlernen". Die Entstehung von Gefühlen ist an vielerlei Faktoren gebunden. Gefühle sind beeinflussbar. Ändern sich Rahmenbedingungen und Bewertungen, ändern sich auch die Gefühle. Das mag man aus dem persönlichen Alltag kennen, doch solche Veränderungen sind auch an ganzen Gesellschaften zu beobachten: Blickt man über die Jahrhunderte hinweg, stellt man fest, dass bestimmte Gefühle zu bestimmten Zeiten geradezu in Mode waren.

Ausdruck des Ehrgefühls: Wer sich dem Zweikampf stellte, wurde als Ehrenmann angesehen - ganz gleich, wer siegte. (Duell im Bois de Boulogne in Paris, Zeichnung von 1874)
"Im 19. Jahrhundert", so ein Beispiel Hitzers, "hatte eine komplexere Emotion von Ehre Konjunktur. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sie in Westeuropa dann stark an Bedeutung verloren. Dafür sind hier andere Emotionen, wie zum Beispiel die Empathie, wichtiger geworden."
Wie schnell sich ein solcher Wandel vollzieht, hängt von sozialen, politischen, gesellschaftlichen und anderen Bedingungen ab. Im Vordergrund steht dabei die Frage, was man unter einem konkreten Gefühl versteht. Die Antwort darauf kann über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg statisch bleiben. Prinzipiell aber ist eine Änderung immer möglich – sogar bei der Trauer, von der man meinen könnte, sie wäre so grundlegend, dass für Erlerntes kein Spielraum bleibt.
"Die Fähigkeit zur Traurigkeit ist da, sie gehört zur Natur des Menschen", führt Hitzer aus. "Aber was uns traurig macht, wie wir unsere Trauer erleben, ob wir sie ausdrücken, mit welcher Mimik, vielleicht auch mit welcher Kleidung, wie Trauerkleidung unser Gefühlsleben beeinflusst, das alles ist extrem wandelbar. Die Hoffnung, mit der die Trauer um einen Menschen einhergehen kann, beeinflusst ebenfalls die Art die Trauer. Sie hängt nicht zuletzt von der Jenseitsvorstellung ab und davon, wie man dem Tod begegnet. Ist er etwas Alltägliches? Oder wird er immer als vorzeitig erlebt? All diese Aspekte sind historisch und kulturell wandelbar und eben in gewisser Weise auch gelernt."
Angst: einst lähmend, jetzt intelligent
In den vergangenen Jahrzehnten – so die Beobachtung von Emotionshistorikern und auch Soziologen – ist es die Angst, die einem Wandel unterworfen war. Was versteht man unter Angst? Wie erlebt man sie? Wie drückt man sie aus? Wie bewertet man sie? Die Antworten auf diese Fragen haben sich in den letzten 40 Jahren verändert. "Man kann feststellen, dass es seit den 1970er Jahren eine Aufwertung von Angst gibt", sagt Hitzer. "Man meint jetzt, dass sie einen auf Gefahren hinweist und dass sie einem hilft, die Zukunft zu planen. Angst wird nicht mehr als lähmend beurteilt, auch nicht als feige, sondern sie ist das Gefühl der Intelligenten und Vorsichtigen."
Gesellschaftlich betrachtet, ist es der Terrorismus, der diffuse Ängste in uns wachruft, sowie körperliche Versehrungen. Grippe, Vogelgrippe, Epidemien, aber auch chronische und schleichende Krankheiten wie Krebs sind die Angstauslöser bei den Menschen im beginnenden 21. Jahrhundert. "Wir leben im Zeitalter der Angst", heißt es in der aktuellen soziologischen Diskussion. Anders ausgedrückt: Angst ist gerade in Mode. Irgendwann mag sich das ändern. Dann betritt ein anderes Gefühl die große Bühne. Wer weiß, vielleicht ist es das Glück.
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Quelle: ntv.de