Leben

Aus der Schmoll-Ecke Die wahre Wahrheit über die Wahrheit

Nicht nur ein Tisch so groß wie das Saarland steht zwischen Putin und Scholz.

Nicht nur ein Tisch so groß wie das Saarland steht zwischen Putin und Scholz.

(Foto: imago images/ITAR-TASS)

Die reale Welt ist böse. Deshalb haben wir den Sprachschutz vor dem Weltuntergang erfunden. Lasset uns nicht mehr Stiefvater, sondern Bonusvater sagen, nicht mehr Krieg, sondern vom K-Wort reden. Nie wieder K-Wort!  

Neulich las ich in ein Buch, das, bevor es (mir) das Tor in eine fiktive Welt öffnen wollte, mich mit einer "Warnung" vor Ähnlichkeiten mit der Realität begrüßte. Zu lesen war, jedenfalls stand es so geschrieben: "Dieser Roman enthält explizite Darstellungen körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt, Rassismus, Sexismus und Misogynie, diskriminierende Sprache und Beschimpfungen, chronische und psychische Krankheiten und Konsum von Alkohol und Drogen. Bitte achten Sie beim Lesen auf sich, da diese Inhalte belastend und retraumatisierend sein können. Detaillierte Angaben am Ende des Buches."

Als Folge dieser Warnung habe ich auf den Kauf des Buches verzichtet, da ich dem Versuch widerstehen wollte, an meine schreckliche Kindheit zu denken und retraumatisiert zu werden. Ich habe genug Stunden bei Psychologinnen verbracht und diesen über meinen Vater berichtet, zu dem ich ein (ab)geklärtes Verhältnis habe, spätestens seit er tot ist.

Die tragische Folge meiner Konsumverweigerung ist: Ich werde niemals erfahren, um welche "detaillierten Angaben am Ende des Buches" es sich handelt, ob dort die Whiskeys vorgestellt werden, die sich irgendeine saufende Romanfigur in die Birne schüttet, ob erklärt wird, woher die Schimpfwörter Arschloch und Fotze stammen und warum mit Muschis nicht nur Katzen gemeint sein können, warum das N-Wort und das Wort N-Wort-Küsse (zu Recht) nicht mehr gesagt werden sollten, dass Gewalt strafbar ist und weshalb Frauen es nicht mögen, wenn man sie beschimpft und schlägt.

Romane, die vor sich selbst warnen. Das ist neu. Und bekloppt. Ein Indiz dafür, dass Erwachsene glauben, andere Erwachsene wie Kinder behandeln zu müssen. Ich habe keine Ahnung, warum Bücher nun mit einem Gefahrenhinweis beginnen, wem damit geholfen sein soll, wenn vor erfundenen Geschichten gewarnt wird, die der Wirklichkeit nahekommen. Stellen Sie sich vor, Wassili Grossmans "Leben und Schicksal" oder Imre Kertész' "Roman eines Schicksallosen" begönnen mit der Warnung: "Bitte achten Sie beim Lesen auf sich, da diese Inhalte belastend und retraumatisierend sein können." Literatur hat das Recht, belastend zu sein.

Indes: Warnungen dieser Art passen in unsere Welt des Infantilismus, in der die Menschheit haufenweise Abfall und Scheiße produziert und zugleich Mülleimer bereitstellt mit Aufschriften wie "Achtsamkeit" und "Behutsamkeit" und "Liebe". Scheiße sagt man nicht. Ich weiß, ich weiß. Sprache ist wichtig. Sie macht die Welt besser - wir müssen nur das Richtige sagen und dann fest an die Wirkung des Gesagten glauben oder im Zweifel dazu erklären, dass "die Inhalte belastend und retraumatisierend sein können".

Der Duden ist ganz vorn dabei

Sprachschutz vor dem Weltuntergang. Der Duden ist ganz vorn dabei: "Gelegentlich wird die Bezeichnung Jude, Jüdin wegen der Erinnerung an den nationalsozialistischen Sprachgebrauch als diskriminierend empfunden. In diesen Fällen werden dann meist Formulierungen wie jüdische Menschen, jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger oder Menschen jüdischen Glaubens gewählt." Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, protestierte gegen den Warnhinweis: "Das Wort 'Jude' ist für mich weder ein Schimpfwort noch diskriminierend."

Nie wieder K-Wort!

Nie wieder K-Wort!

(Foto: imago images/Rolf Zöllner)

Egal, dann wird er eben gezwungen, das (auch für ihn) Richtige zu ertragen. Wir meinen es gut mit Ihnen, Herr Schuster, sehen Sie es ein, dass wir wissen, wann Sie diskriminiert werden und wann nicht. Denn Wortwahl bedeutet Fortschritt. Lasset uns nicht mehr Stiefvater, sondern Bonusvater sagen, nicht mehr Krieg, sondern Zwischen-Friedenszeiten oder einfach nur vom K-Wort reden. Nie wieder K-Wort! Das müssen doch auch Gerhard Schröder und Wladimir Putin kapieren. Vielleicht kann man hinter die Warnung in und vor Romanen noch schreiben: "Nie wieder K-Wort! Impfen hilft! Auch allen, die du liebst." Das wäre dann so was wie ein Rundum-Sorglos-Wohlfühl-Hinweis gratis zum Buch, das was kostet, obwohl die "Inhalte belastend und retraumatisierend sein können".

Heiliger Bimbam, was hat sich halb Deutschland über den Christdemokraten Thomas de Maizière lustig gemacht, als er die Auskunft zu den Gründen vor einer ganz realen Terrorwarnung verweigerte: "Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern." Er hätte besser sagen sollen: "Die Inhalte könnten belastend und traumatisierend sein." So nicht, raus mit der Wahrheit, Herr Innenminister! Sonst knallt's! Realitäten schaffen ohne Waffen. Faktisch wie in Romanen. Das sollte sich einmal Genosse Putin zu Herzen nehmen. Lügen haben kurze Beine, selbst wenn man sie unter Tischen versteckt, die fast so groß wie das Saarland sind.

Ich kriege manchmal Mails, in denen ich gelobt werde, dass ich angeblich "die Wahrheit" schreibe, was ich nicht immer tue, wie mein Vergleich zwischen der Größe des Putinschen Tisches und des Saarlandes dokumentiert. Ich habe weder das Möbelstück noch das Land vermessen. Und überhaupt: Wer kennt die Wahrheit? "An jeder Verschwörungstheorie ist ja immer ein kleiner plausibler Kern", hat der weltberühmte Virologe Alexander Kekulé gerade in der weltberühmten Zeitung "Welt" verkündet. Wissenschaftler sind Wahrheitssucher.

Der Blinde unter den Einäugigen

"Wahrheit lässt sich nicht zeigen, nur erfinden", begründete Max Frisch einst, warum er Schriftsteller wurde, übrigens in einer Zeit, in der Romane noch ohne Warnungen auskamen. Dabei kann auf Gefahren, die von Biedermännern und Brandstiftern ausgehen, nicht oft genug hingewiesen werden. Frisch ließ uns wissen: "Die beste und sicherste Tarnung ist immer noch die blanke und nackte Wahrheit. Komischerweise. Die glaubt niemand."

Ich und die Wahrheit? Wer bin ich denn? Ein Blinder unter Einäugigen? Ein Einäugiger unter den Blinden, also ein König? Bin ich Gantenbein? Hinter meiner Blindenbrille beobachte ich Sie, Sie und Sie, ohne dass Sie sich beobachtet fühlen, weil Sie meine Tarnung nicht erkennen können. Sie helfen mir über die Straße, weil Sie achtsam und herzensgut sein wollen, während ich in Wahrheit ein Schelm bin, ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft, die gerne verneint und am Ende zu allem Ja und Amen sagt.

Apropos Kirche und Glauben. Es ist wichtig, an das Gute im Menschen zu glauben - und damit meine ich nicht das Kokain in Mägen von Drogenschmugglern. Von Martin Luther ist das Zitat überliefert: "Du kannst nicht verhindern, dass ein Vogelschwarm über deinen Kopf hinwegfliegt. Aber du kannst verhindern, dass er in deinen Haaren nistet." Der Mensch hat genug Waffen, einen ganzen Schwarm von Schwänen und Gänsen auf einmal vom Himmel zu holen. Er hat aber auch sein Gehirn darauf getrimmt, ein Vogel zu sein und bei der Nahrungsaufnahme, selbst der geistigen, nur die Rosinen rauszupicken, die zu ihm und seinem Weltbild passen.

Da mache ich nicht mit. Als Sehr-Gutmensch bin ich zur Wahrheit verpflichtet. Die wahre Wahrheit über die Wahrheit lautet: Ich kenne sie nicht. Gott sei Dank.

Quelle: ntv.de

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