
Adoption bedeutet immer auch Ausgrenzung, sagt Autor Ralf Lengen in seinem Buch über seine Adoptionsgeschichte.
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Eine junge alleinerziehende Mutter gibt in den 1970er Jahren ihren fünfjährigen Sohn in einer Zeitungsanzeige zur Pflege auf: "Welche kinderliebe Frau oder welches Ehepaar nimmt fünfjährigen Jungen in Pflege?" Elf Worte, die das Leben von Ralf Lengen für immer verändern werden.
Der Daumen von Ralf Lengens Bruder kann nach hinten überdehnt werden. Auch der Daumen von Ralfs Vater hatte diese besondere Eigenschaft. Am Frühstückstisch im Hause Lengen sorgte diese Ähnlichkeit so manches Mal für Freude. Nur Ralfs Daumen blieb immer steif, ließ sich nicht nach hinten biegen.
Lengen ist adoptiert. Als er fünf Jahre alt ist, gibt seine Mutter ihn per Zeitungsannonce in Pflege. Sie ist damals 29 Jahre alt, hat drei Kinder und ist gerade geschieden. Sie kommt mit ihrem Leben als junge, alleinerziehende Mutter nicht mehr zurecht. Also schreibt sie eines Tages die Zeile "Welche kinderliebe Frau oder welches Ehepaar nimmt fünfjährigen Jungen in Pflege?" und schickt sie an die Lokalzeitung. Es sind elf Worte, die das Leben von Ralf Lengen für immer verändern.
Zwölf Personen melden sich. "Zwei Drittel davon konnte man gleich wegwerfen", erzählt Lengens leibliche Mutter Sabine viele Jahre später. "Die hatten nur finanzielle Interessen." Drei Briefe kommen in die engere Wahl, schreibt der heute 54-Jährige in seinem neuen Buch "Ins neue Leben getreten!". Familie Lengen antwortet auch. Und so landet Ralf in seiner neuen Familie.
Das neue Leben
Er wächst 60 Kilometer von Sabine und seinen beiden leiblichen Geschwistern entfernt auf, hat regelmäßig Kontakt mit ihnen. Und so kann er immer vergleichen, wie es für ihn hätte sein können. Wenn Lengen heute darüber nachdenkt, hat er es in seinem Leben besser als seine Geschwister. Seine Eltern sind mehr für ihn da, als Sabine es sein kann. "Wenn ich von der Schule nach Hause kam, wurde ich von Mama empfangen", schreibt Lengen in seinem Buch. "Ich wuchs mit einem Vater auf, meine beiden Geschwister nicht."
Was Lengen jedoch nicht hat, ist ein Leben mit seiner biologischen Familie, mit seiner "ersten" Mutter, wie er manchmal im Buch schreibt - obwohl er diesen Begriff nicht besonders schätzt, denn dann gäbe es zwangsläufig eine "zweite" Mutter. Er hat ein Leben, in dem er sich überhaupt mit solchen Fragen auseinandersetzen muss; in dem er ständig erklären muss, warum er anders aussieht als seine Lengen-Geschwister; in dem er sich wegen Kleinigkeiten wie der Elastizität des Daumens ausgeschlossen fühlt. Und er hat ein Leben, von dem er zuerst ausgeschlossen wird, bevor er zu diesem besseren Leben kommt.
Das beschäftigt ihn sein ganzes Leben lang. Selbst Lengen, der eine erfolgreiche Adoptionsgeschichte hat, spürt den Bruch mit seiner ersten Familie noch heute. "Das vergisst man nie", sagt er.
Dieser Ausschluss aus der "ersten" Familie ist etwas, das viele Kinder, die adoptiert wurden, beschäftigt, sagt Lengen. Das zeigen auch die Hunderte von Zitaten, die Lengen aus Literatur und Forschung aus der ganzen Welt zusammengetragen und auf den Seiten des Buches untergebracht hat. Nancy Newton Verrier, Mutter einer adoptierten und einer leiblichen Tochter, zitiert er mit den Worten: "Dieses verlassene Baby lebt in jedem Adoptierten und in jeder Adoptierten das ganze Leben lang." Frank Salamone, selber Adoptivkind, schreibt, "'Hallo' zur einen Familie bedeutet 'Auf Wiedersehen' zur anderen."
Trauerverbot
"Das ist Adoption", erklärt Lengen. "Annahme und zuvor Ausschluss." Alle wollen den zweiten Teil sehen: die schöne Geschichte, wie Ralf ein Lengen wurde. "Was die meisten nicht sehen wollen, ist der Tritt", sagt er.
Ein Tritt, der ihn sein Leben lang begleiten wird und ihn dazu veranlasste, ein Buch über Adoption aus der Perspektive des Kindes zu schreiben. Denn so schön Adoption auch sein könne, dieser Tritt sei immer ein zwingender Teil der Geschichte, erklärt er. "Aus dem ersten Familiensystem ausgeschlossen zu werden, hat immer etwas mit Schmerz zu tun." Ganz gleich, wie schön es in der Adoptivfamilie schließlich wird. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand so etwas locker wegstecken kann", erklärt er im Interview mit ntv.de.
Aber genau das werde erwartet. Selbst ein guter Freund riet ihm in dem Kapitel mit der Überschrift "Ausschluss", sich nicht so als Opfer zu präsentieren. Schließlich sei er nicht der Einzige, der es im Leben schwer hat. "Klar, jeder hat sein Schicksal", sagt Lengen. "Aber was mich wütend und traurig macht, ist, dass Adoptierten zumeist das Recht auf Trauer verwehrt wird."
"Ein Eigentor"
Das Leid des Kindes werde oft geleugnet. Selbst die Adoptiveltern würden oft nicht zulassen, dass ihr Kind auch viele Jahre später noch mit dem Ausschluss aus der ersten Familie kämpft. Die eigene Angst der Eltern davor, dass sich das Adoptivkind nicht ganz zu Hause fühlt oder irgendwann in die erste Familie zurückkehren möchte, ist oft zu groß, um dem Kind die Erlaubnis zu geben zu trauern. "Und das ist ein Eigentor", erklärt Lengen. Denn wenn die Eltern das Leid ihres Kindes leugnen, könne es nicht geheilt werden, und es stehe etwas zwischen ihnen.
Lengen selbst brauchte Jahrzehnte, um sich seinen Schmerz einzugestehen. Heute zeigt er sogar Verständnis für die schwierige Entscheidung seiner ersten Mutter. "Wer bin ich, dass ich über meine Mutter urteile?", sagt er. Auch seine Mutter Sabine hat erkannt, in welche schwierige Situation sie ihren Sohn mit dieser Entscheidung gebracht hat. "Ich hatte damals nicht die Weitsicht. Ich habe nur auf die Gegenwart geschaut. Nicht im Entferntesten habe ich geahnt, was das alles nach sich ziehen würde. Du hast viel durchgemacht. Das tut mir sehr leid", schreibt sie im Vorwort des Buches.
(Dieser Artikel wurde am Montag, 30. Januar 2023 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de