Schmidts Writers' Thursday Von Vorlesegöttern, drinnen rauchen und Punk-Atmosphäre
04.10.2023, 18:17 Uhr Artikel anhören
Lesen, fühlen, träumen: Das Buch wird alles überleben, davon ist Rainer Schmidt überzeugt.
(Foto: imago images/Mary Evans)
Vier Mal im Jahr veranstaltet Rainer Schmidt einen Writers' Thursday. Im 1. OG des Berliner Restaurants Borchardt lesen Schriftsteller, Schauspieler, Musiker aus ihren Werken. Das Publikum? By invitation only und fast ebenso schillernd wie die Akteure. Der Veranstalter selbst würde sich sicher nicht als schillernde Persönlichkeit bezeichnen, er gehört aber zum Programm wie das Amen in der Kirche. Unverwechselbar stellt er seine Gäste vor, fasst deren Bücher in einigen Sätzen zusammen - eine wahre Kunst, wenn man das Tempo seines Vortrags beachtet und die Tatsache, dass er jedes einzelne Buch von vorne bis hinten gelesen hat. Die Freude über seine Veranstaltung, die es seit 2015 - seit einem Jahr auch regelmäßig in Hamburg in den Tonstudios der Clouds Hill Group, in denen schon Die Ärzte und Pete Doherty aufgenommen haben - gibt und die sich wachsender Beliebtheit erfreut, steht ihm dabei ins Gesicht geschrieben. Damit nicht nur die Hauptstädter (oder: geladene Gäste) in das Vergnügen dieser Lesungen kommen, hat Schmidt sein Konzept ausgedehnt: Am 5. Oktober gibt es (im ausverkauften Hamburger Schauspielhaus erstmals) ein "Writers´ Thursday Special" mit Wolfgang Niedecken & Mike Herting, Inga Humpe & Tommi Eckart (2raumwohnung), Stefanie Sargnagel, Charly Hübner, Johann Scheerer und Westbam in Hamburg, weitere sollen folgen. Rainer Schmidt weiß, warum alte Rockstars und das System Buch nicht totzukriegen sind - und erzählt es ntv.de.
ntv.de: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Ihren "Writers' Thursday" zu initiieren?
Rainer Schmidt: Ich hatte einen Roman geschrieben, "Die Cannabis GmbH", den ich für sensationell hielt (lacht), und habe mich gewundert, warum ich eigentlich so selten zu Lesungen eingeladen werde. Daraufhin bin ich damals zu Roland Mary (Anm.d.Red.: Besitzer des Restaurant Borchardt) gegangen, mit dem ich mal ein Sachbuch geschrieben hatte, und habe ihn nach seinem 1. OG gefragt (Anm.d.Red.: Eine große Altbauwohnung für private Feiern), ich wollte mein Buch wirklich gern unter die Leute bringen. Als ich merkte, dass ich bei ihm zunächst nicht auf allzu große Begeisterung stieß, war mir klar: Das reicht wohl nicht. Also habe ich fünf Freundinnen und Freunde aus demselben Verlag gefragt, damals Rogner & Bernhard, ob wir nicht einen Abend über Großstadtfeiern und Drogen machen wollen. Und dabei auch lesen – an einem Donnerstag. So ist der Name entstanden. Das war zunächst nicht als Serie geplant.
Und dann schlug das Ding ein ...
Ja, der Abend war sensationell. Bumsvoll war es, ein Riesenspaß. Das machen wir nochmal, dachte ich, und so war die Serie geboren. Inzwischen ist das acht Jahre her, und es hat sich von Anfang an so angefühlt, als ob es die Veranstaltung immer schon gegeben hätte. Die Idee war, es anders zu machen als die klassische Autorenbuchhandlung, wo es eben manchmal nervt, wenn eine einzelne Person zu lange liest. Ich wollte es lockerer angehen, mehr wie eine Party oder einen Rave. Vielleicht sogar ein bisschen wie ein Festival.
Sie wollen ja auch ein anderes Publikum ansprechen ...
Irgendwie schon, ja. Ein Publikum, das kommt, obwohl es nicht nur an Literatur interessiert ist, eher, weil es Lust hat auf die Mischung von Leuten, auf die Kurzweiligkeit. Wenn sechs Autoren jeweils nur zwölf Minuten lesen und dazwischen nicht interviewt, sondern von mir nur eingeführt werden, hat man innerhalb von 90 Minuten ein ganzes Panorama von verschiedenen Stimmen und Stimmungen. Dabei ist die Publikumsmischung mindestens genauso wichtig wie die der Autorinnen und Autoren. Es kommen auf gar keinen Fall nur Gäste aus dem Verlagswesen. Wichtig ist mir das Nachtleben: Leute aus der Musikszene, Clubbesitzer, Normalos, Künstler, Schauspieler. Ich glaube, dass es in Berlin eine Sehnsucht danach gibt, die Kreise zu mischen.
Es gibt ja selbst in Berlin nicht so viele Möglichkeiten, die Kreise zu mischen ...
Ja, aber an guten Abenden gelingt das. Es entsteht auf diese Weise eine Art Salon-Atmosphäre. Am glücklichsten bin ich, wenn ich in der Pause oder nach den Lesungen herumgehe, und es wird überall gequatscht und getrunken. In einem Raum darf ja auch geraucht werden.
Macht es Sie manchmal nicht irre, wenn alle im Hintergrund quasseln? Je später der Abend, desto mehr Gelaber verzieht sich ja in die hinteren Reihen ...
Es ist sicher manchmal ein bisschen anstrengend, auch für die Vorlesenden, aber das wissen ja alle. Es ist ein bisschen mehr Punkkonzert als Lesung, man muss sich da schon durchsetzen wollen (lacht).Es ist eben nicht diese sakrale Autoren-Buchhandlungslesung, das gehört dazu. Wenn es mal überhand nimmt, gibt es immer Leute, die sich umdrehen und sagen: "Jetzt haltet doch mal die Klappe!" Aber das ist das Prinzip: Man kann kommen und gehen, die Türen gehen auf und zu. Es gibt eine Pause, Leute holen sich Getränke. Genau das erzeugt diese Art von Lockerheit und Atmosphäre. Von den Autoren hat sich noch nie einer über zu viel Lärm beschwert.
Super ist auch, dass man alle Bücher, so sie denn bereits erschienen sind, gleich kaufen kann.
Stimmt. Das finden auch die Lesenden gut.
Es ist auch ein Vorteil bei den kurzen Lesungen pro Autor, dass es so schön kurz ist ...
(lacht) Es gibt ja Autoren, vor ihrem eigenen Werk sitzen und es so vorsichtig vortragen, dass man meint, sie hätten ihren eigenen Text noch nie vorgelesen. Dann freut man sich vielleicht, dass es in zehn, zwölf Minuten vorbei ist. Und dann kommen richtige Vorlesegötter, wie Sven Regener oder Thees Uhlmann oder auch Feridun Zaimoglu. Wenn die gelesen haben, denkt man sich: "Warum hört der jetzt schon wieder auf?"
Manchmal werden die Texte auch von Schauspielern oder MusikerInnen gelesen. Wenn ein Autor nicht mehr lebt. Oder nicht kommen kann.
Wenn ich Schauspieler oder Schauspielerinnen suche, habe ich ein, zwei Freundinnen, die sich in dem Bereich sehr gut auskennen, wir schauen gemeinsam, wer passen könnte. Ohne diese Connections ginge das nicht. Mittlerweile hat sich da ein richtiges Netzwerk entwickelt. Und wir legen großen Wert auf die Verbindung zwischen Musik und Literatur. Es gibt zum Glück sehr viele Musiker, leider weniger Musikerinnen, die selbst Bücher geschrieben haben. Und sobald ich irgendwo von irgendwem höre, dass ein Musiker schreibt, frage ich meist sofort an. Mittlerweile hat unser Event bei vielen Musikern, die Bücher schreiben, einen ganz guten Ruf. Eigentlich kommen fast alle. Der einzige, der bis jetzt aus Termingründen noch nicht gekommen ist, ist Bela B. Aber auch das werde ich noch schaffen.
Sie haben alle Bücher gelesen ...
Das ist mein Anspruch, ich habe jedes Buch gelesen und meistens lade ich auch erst ein, wenn ich die Bücher gelesen habe. Denn das ist ja das Prinzip: Ich empfehle die Bücher, die ich gut oder sehr gut finde – oder die Autorinnen und Autoren.
Sie fassen die Bücher für die Anwesenden ja immer in einem atemberaubenden Tempo zusammen, weil alles recht schnell gehen muss, denn die Vorlesenden können ja nur einen ganz kleinen Ausriss aus dem Buch vorlesen.
Man hat mich schon gefragt, was denn das für ein Rap ist? Ich mache mir zwar Stichworte, aber das Ziel ist, nie auf die Karteikarten zu gucken, das ist mein persönlicher Ehrgeiz. Ich habe schon auch mal das Gefühl: "Oh Gott, das ging jetzt völlig in die Hose." Dann schicke ich meiner Frau, die im Publikum sitzt, während der Veranstaltung eine SMS und frage: War es schlimm? Und ich weiß, sie würde mich nie anlügen (lacht).
Literatur hat ja manchmal so was Schweres und Staatstragendes, beim Writers' Thursday nicht.
Danke, das freut mich wirklich sehr. Meist ist es ja so, dass die Autoren nachvollziehbarerweise erklären wollen, warum sie ausgerechnet auf Seite 70 anfangen zu lesen, aber das geht alles von der Lesezeit ab. Deswegen mache ich das lieber selbst und fasse das Buch zusammen. Ich freue mich sehr, dass das Feedback von den Lesenden extrem nett ist. Also scheine ich meistens zu erfassen, was sie sagen wollen.
Es gibt den "WT" seit 2015 in Berlin, mit ein paar Ausnahmen, aber jetzt soll alles noch schneller, höher, weiter werden, zum Beispiel in Hamburg.
Genau. Da waren wir letztes Jahr auch schon regelmäßig, in den Cloud Hill Studios bei Johann Scherer.
Ist Berlin zu klein geworden?
Ich habe lange in Hamburg gewohnt, und wenn ich etwas auf Social Media zu den Abenden gepostet habe, kamen immer alte Bekannte aus Hamburg und haben gesagt: Macht das mal in Hamburg. Gerne, aber ich brauche eben immer einen tollen Raum. Und ich brauche Sponsoren, die Gäste zahlen ja keinen Eintritt. Zwei schwierige Aufgaben. Dann habe ich den sehr netten Autor Johann Scheerer angerufen, denn er kennt die besten Räume in Hamburg. Zum Beispiel sein Tonstudio, dahin hat er uns eingeladen – und sponsort uns auch. Da waren wir bereits vier Mal, da ist eine ganz tolle Atmosphäre!
Klingt nach einem Riesenspaß ...
Ja, aber ohne Sponsoren, wie auch BMG und Zebralution in Berlin, geht es nicht. Die Autorinnen und Autoren bekommen ein Honorar, es entstehen Reisekosten, ich lade alle zu einem beliebten Pre-Show-Dinner ein, dazu Technik- und Raumkosten ... Die Sponsoren sehen, wie viele Musiker und Autoren da sind und finden diese Verbindung von Literatur und Musik gut. Es gibt ja keine Außenwirkung im üblichen Sinne, weil es meist ein geschlossener Kreis nur für geladene Gäste ist. Ich glaube, beide Sponsoren haben einfach gesehen, da kommt eine Publikumsmischung zusammen, die sehr interessant ist für alle Beteiligten und denen das auch Spaß macht.

"Meine Hobbies sind Lesen und Musik." Rainer Schmidt weiß, was er in ein Poesie-Album zu schreiben hätte.
(Foto: Dieter Eikelpoth)
Was ist nun der Unterschied zwischen Hamburg und Berlin?
Wir sind bereits viel länger in Berlin. Dadurch ist die Mischung im Publikum inzwischen so, wie ich es mir am Anfang immer vorgestellt habe: alle Generationen, alle Lebensbereiche, Partyatmosphäre. In Hamburg ist es noch sehr viel neuer, das heißt, der Verteiler baut sich erst langsam auf. Es muss sich weiter herumsprechen. Aber wir sind auf einem guten Weg. So ist der Altersdurchschnitt in Berlin über die Jahre deutlich gesunken. Und ich glaube, das werden wir auch in Hamburg erreichen.
In Hamburg gab es Tickets zu kaufen ...
Ja, mit der Betonung auf "gab", wir sind ausverkauft! Dann sind da 1200 Leute im Schauspielhaus. Da kommt mir schon ein bisschen der Schweiß auf die Stirn.
1200 Leute, die sich was vorlesen lassen wollen.
Von sechs Leuten und dreimal Livemusik.
Livemusik ist Ihnen wichtig ...
...ja, hatten wir das auch schon in Berlin. Campino mit Kuddel, Käptn Peng & Die Tentakel von Delphi , Timo Blunck, Michael Ostrowski mit Band. Literaten sind durch Musik inspiriert – und umgekehrt. In manchen Personen vereinigt sich das, wie bei Campino, zum Beispiel. Wenn so ein Musiker ein tolles Buch schreibt, und dann Livemusik dazu kommt, dann ist das für mich wie Weihnachten und Ostern zusammen. Im Schauspielhaus haben wir sechs Lesende, von denen machen drei Musik. Inga Humpe kommt mit Tommi Eckart: Erst liest sie aus ihrem Buch, dann spielen sie unplugged zwei Stücke. Johann Scherer liest aus seinem Buch, er spielt zwei Stücke. Und dann kommt Wolfgang Niedecken, liest aus einem Bob Dylan-Buch – und spielt mit dem Pianisten Mike Herting drei Stücke. Da freue ich mich schon riesig drauf. Besser kann ich mir das kaum vorstellen. Auch wenn ich vor der Kulisse großen Respekt habe.
In Frankfurt sind Sie auch, zur Buchmesse ...
Ja, aber da wieder nur mit geladenen Gästen aus der Frankfurter Buch- und Nightlife-Szene. In meinem echten Leben bin ich Journalist und leite das Zukunftsmagazin der F.A.Z., das sogenannte "Quarterly". Den Writers' Thursday mache ich als Autor und Privatmann. Aber jetzt gibt es erstmals ein Special in Frankfurt, auch wieder mit Livemusik und einem DJ.
Das Buch wurde schon so oft totgesagt - haben Sie das Gefühl, dass es so ist?
Das Buch ist nicht tot, und auch nicht tot zu kriegen. Literaturveranstaltungen können manchmal anstrengend sein, das schreckt viele ab. Wenn man aber Literatur als Teil von einem unterhaltenden Abend mit netten Leuten präsentiert bekommt, ist das Interesse größer. Insofern glaube ich, liegt viel an der Präsentation von Büchern, um Leute zu erreichen, die zu Hause nicht die große Bücherwand haben.
Also haben Sie eine Plattform geschaffen, die andere Kreise da reinbringt.
Das hoffe ich. Maxim Biller hat mal vor vielen Jahren gesagt, die Bücher, die in Deutschland herauskommen, seien oft langweilig. Es gäbe so eine "Schlappschwanz-Literatur", weil deutsche Mittelstandssöhne und -töchter über ihren langweiligen Alltag schreiben. Aber wartet mal, bis die migrantisch bestimmte Literatur kommt, sagte er.
Hatte er recht?
Tatsache ist, dass heute sehr viele Autorinnen und Autoren mit den unterschiedlichsten Backgrounds schreiben, die nicht immer sofort die Bestseller landen, aber unglaublich interessante Stimmen sind. Und die versuche ich ebenfalls zu präsentieren. Nicht, weil ich irgendwelche Quoten erfüllen will, sondern weil ich sie extrem spannend und bereichernd finde.
Und wie suchen Sie konkret aus der unendlichen Fülle von Neuerscheinungen aus?
Es muss mir ganz einfach gefallen. Das ist der einzige Maßstab. Es ist dabei natürlich auch ein bisschen Zufall, Willkür. Ich kriege sehr viele Bücher zugeschickt. Ich kriege Empfehlungen von Freundinnen und Freunden. Meine Frau kennt sich sehr gut mit Literatur aus. Wir haben unterschiedliche Geschmäcker, aber sie weiß ungefähr, was ich gut finde. Und dann gibt es die, die schon mal da waren, die habe ich automatisch auf der Liste. Und manchmal kommt einer und sagt, du musst dieses Buch lesen. Wenn das eine vertrauenswürdige Person ist, lese ich es auch. Aber es stapeln sich auch viele Werke von Autoren und Autorinnen, die ich gerne eingeladen hätte oder einladen würde. Der Zeitaufwand ist allerdings schon groß, auch wenn ich sehr schnell lese. Wenn man sechs einlädt, muss man sechs lesen. Aber meistens lese ich zehn, um die sechs auszusuchen.
Wie geht's weiter nach Berlin, Hamburg, Frankfurt - was ist mit München?
Ja, ich würde den WT wahnsinnig gerne mal in München machen. Es ist immer dieselbe Frage: Sponsor und Raum. Mich würde auch das Ruhrgebiet sehr interessieren. Ich schau' mal, wie sich das jetzt anfühlt und wirkt im Schauspielhaus. Vielleicht signalisieren danach ja auch andere große Häuser in anderen Städten Interesse, das würde mich freuen.
Und wie kommt man rein, wenn man nicht auf Ihrer Liste steht?
Mein Traum wäre, dass es diesen kleinen Nukleus, die Homebase, in Berlin gibt, und dass so etwas, wie jetzt in Hamburg, wo wir die Veranstaltung für alle öffnen, öfter möglich wird. Es muss ja gar nicht immer die ganz große Bühne sein. Aber es wäre toll, diese Art von Veranstaltung quer durch die Republik zu tragen, weil ich glaube, dass die Schriftsteller, Schriftstellerinnen und alle Musiker und Musikerinnen, die das Format kennen, Lust darauf haben. Und das Publikum scheint sich auch dafür zu interessieren.
Mit Rainer Schmidt sprach Sabine Oelmann
Quelle: ntv.de