Ich liebe dich, wie du bist Wie queere Kinder Eltern herausfordern


Pubertät ist der entscheidende Punkt für die Selbsterkenntnis rund um Sexualität.
(Foto: picture alliance / Winfried Rothermel)
Die 12-Jährige ist verliebt - in ein Mädchen. Der Sohn fühlt sich als Tochter. Immer mehr Heranwachsende verorten sich auf dem queeren Spektrum. Ist das wirklich der Zeitgeist? Und wie reagieren Eltern dann?
Wer heute Kinder im Teenageralter hat, kommt um das Thema LGBTIQ+ kaum herum. Es gibt Pride-Paraden, Promis outen sich als bisexuell oder transgender, Netflix-Serien erzählen homosexuelle Liebesgeschichten. In vielen Familien wird recht offen über andere Lebenswürfe gesprochen und trotzdem bleibt oft Unsicherheit.
"Kinder bringen uns diese Themen nach Hause", sagt die Sexualwissenschaftlerin Christiane Kolb im Gespräch mit ntv.de. Sie hat zusammen mit Verena Carl das Buch "Queere Kinder" geschrieben, eine Orientierungshilfe für Familien von LGBTQIA+-Kindern und -Jugendlichen. Wegen der Alltäglichkeit dieser Themen glaubten viele, das sei alles "lässig und cool", sagt Kolb. Doch wenn sich das eigene Kind outet, wird es oft für Eltern schwierig.
Verena Carl hat ein queeres Kind und kann sich gut an ihre eigene Verunsicherung erinnern. "Ich habe in der Auseinandersetzung mit meinem Kind gemerkt, dass das ganz stark mit meinen eigenen inneren Bildern, was es ist und was es in Zukunft sein wird, und meinen Vorstellungen, wie das Leben als Mutter und Tochter sein würde, zu tun hat." Carl spricht von einer Herausforderung, die von "Wachstumsschmerzen" begleitet war.
Identität und Orientierung
Mittlerweile sei das gut überstanden. Es gebe jedoch noch immer viele Vorurteile, mit denen sich Eltern queerer Kinder auseinandersetzen müssten. Sie hätten falsch erzogen, ist eines davon. Andere, dass Kinder sich mit einem Outing nur wichtig machen wollen oder einfach nur vom "Zeitgeist" angesteckt sind. Das Buch liefert deshalb Informationen, die zunächst einmal die Orientierung erleichtern sollen.
Kolb betont an dieser Stelle den Unterschied zwischen Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung. Studien zeigen, dass Kinder bis zum 6. Geburtstag sicher ihr eigenes Geschlecht kennen, oft auch schon früher. Sie können also sagen, ob sie Junge oder Mädchen sind, auch dann, wenn ihre gefühlte Geschlechtsidentität nicht mit den Erwartungen übereinstimmt. Die sexuelle Orientierung ist den meisten im Alter von 16 Jahren klar, dann sind sich Jugendliche sicher, ob sie homo-, hetero- oder bisexuell sind. Vor allem bei transidenten und homosexuellen Kindern und Jugendlichen wird diese Selbsteinschätzung häufig angezweifelt.
Entsprechen die Aussagen den Erwartungen, stimmt also das Geburtsgeschlecht mit der Geschlechtsidentität überein und werden heterosexuelle Orientierungen angedeutet, wird das so gut wie nie infrage gestellt. Für die Sexualwissenschaftlerin Kolb ist das leicht zu erklären: "Weil wir glauben zu wissen, wie es ist. Und weil die uns bekannten Stereotypen rund um die sexuelle Identität in unseren Köpfen und in unseren Gefühlen fest installierte Boxen sind."
Im Buch berichtet ein Pro-Familia-Mitarbeiter davon, dass Eltern sich um ihren homosexuellen Sohn sorgten. Nicht unbedingt, weil sie sein Schwulsein ablehnten, sondern weil sie fürchteten, er könne an AIDS erkranken. Dahinter steht das Stereotyp, vor allem homosexuelle Männer hätten immer unverbindlich und ungeschützt Sex. Lebenslange monogame Partnerschaften scheinen Mann-Frau-Verbindungen vorbehalten, obwohl die Scheidungsstatistik eine andere Realität belegt.
Suche nach einem lebenswerten Leben
Was psychologisch zu erklären und vermutlich allzu menschlich ist, bringt für queere Kinder viel Leid mit sich. Im Mai veröffentlichte die EU-Grundrechteagentur Umfrageergebnisse, denen zufolge 48 Prozent der queeren Kinder und Jugendlichen in Schulen gemobbt werden. Fast die Hälfte (46 Prozent) fühlen sich nicht unterstützt, egal ob innerhalb der Klasse oder von Lehrern. Vorurteile, Stigmatisierung oder sogar Diskriminierung und Hass hinterlassen bei den jungen Menschen oft tiefe Verletzungen. Im Juni 2022 bestätigte eine kanadische Studie bereits vorliegende Untersuchungsergebnisse, wonach queere Jugendliche im Vergleich zu ihren heterosexuellen cisgender Altersgenossen ein fünfmal höheres Risiko für suizidale Gedanken und ein mehr als siebenmal höheres Risiko für Selbstmordversuche haben.
Umso wichtiger ist der elterliche Rückhalt, denn für viele Kinder und Jugendliche geht es buchstäblich ums Überleben. Das für die Pubertät typische Ringen um die Identitätsfindung wird durch die Konflikte mit der Familie oder Schule noch komplexer. Bei transidenten Heranwachsenden kommen möglicherweise noch medizinische Überlegungen oder bei gewünschten Namens- und Personenstandsänderungen bis zur Verabschiedung des neuen Selbstbestimmungsgesetzes auch noch Auseinandersetzungen mit Behörden und Gerichten hinzu.
Carl und Kolb nehmen in ihrem Buch nicht nur die Kinder und Jugendlichen ernst, sondern auch die Eltern. Es fordere viel Rückgrat von den Eltern, bei transidenten Kindern vielleicht sogar die Zustimmung zu medizinischen Entscheidungen, die nicht in den ersten Stadien, aber irgendwann tatsächlich nicht oder nicht mehr vollständig rückgängig zu machen sind. "Das ist natürlich die große Angst der Eltern, gerade wenn es um etwas geht, was sie so wahnsinnig schwer nachvollziehen können", sagt Christiane Kolb.
"Zuhören und sein lassen"
Die Sexualwissenschaftlerin begleitet Familien als Systemische Beraterin und konzentriert sich dabei besonders auf die Beziehungen und Interaktionen untereinander. Aus dieser Perspektive rät sie zunächst einmal zum: "Zuhören, Nachfragen, Nachspüren und sein lassen". Selbst wenn es nur eine Phase wäre, sei es eine gute Unterstützung in der Pubertät, dieser Phase Raum zu geben. Wer interessiert, offen und behutsam fragt, bekommt vermutlich die Chance, mit seinem Kind ins Gespräch zu kommen. Man könne beispielsweise fragen, wie sich das Kind selbst zuordne und angesprochen werden möchte. Vielleicht gibt es auch konkrete Dinge, die man nicht versteht oder bei denen man unterstützen kann. "Und dann würde ich erst mal akzeptieren und sagen: Testen wir das gemeinsam aus als Familie", so Kolb.
Vielen helfe es auch, Gleichgesinnte zu treffen, betont Carl. In manchen Jugendtreffs gibt es Elterngruppen, in denen man sich austauschen kann. Für die Jugendlichen erweise sich das Internet jedenfalls in diesem Zusammenhang als Segen: "Menschen, die statistisch selten vorkommen, können sich dort vernetzen und merken plötzlich: Wir sind viele."
Es sei vollkommen okay, von seinen heranwachsenden Kindern herausgefordert zu sein und sie mit Hoffnungen, Vorstellungen und Wünschen zu begleiten. Aber Elternsein sei eben eine Reise mit unbekannter Route und unbekanntem Ziel, schreiben die Autorinnen im Vorwort zu "Queere Kinder". Und der Kinder- und Jugendendokrinologe Achim Wüsthoff ermutigt Eltern: "Indem sie die vielleicht als zunächst fremd empfundenen Lebensentwürfe unterstützen, tragen sie maßgeblich dazu bei, dass sich ihre Kinder glücklich entfalten können."
Verena Carl erinnert sich heute an einen sehr emotionalen Prozess, bei dem nicht nur viele Grundannahmen infrage gestellt wurden, sondern auch das Bild von der eigenen Toleranz und Elternschaft. Ihre nichtbinäre Tochter* habe sie herausgefordert, aber auch mit ihrem Mut und ihrem Selbstbewusstsein beeindruckt. Sie habe noch immer nicht auf alles Antworten, "vieles wird vielleicht immer eine Frage von Weltsicht bleiben, von grundsätzlicher Offenheit und Veränderungsbereitschaft", schreibt sie. Aber unverzichtbar erscheine ihr, dass sich Eltern und Sorgepersonen hinter ihre Kinder stellen und ihnen vermitteln: Ich liebe dich so, wie du bist.
Quelle: ntv.de