Wild und fragil Liebeserklärung an "mein Spitzbergen"
26.01.2025, 12:21 Uhr Artikel anhören
Spitzbergen - hier ganz ohne Müll.
(Foto: picture alliance / imageBROKER)
Seit 16 Jahren reist Birgit Lutz nach Spitzbergen und in dieser Zeit hat sich auf der Inselgruppe nördlich des Polarkreises viel verändert. In ihrem Buch "Mein Spitzbergen" erzählt sie von vermüllten Stränden, einer "schleichenden Norwegisierung", faszinierenden Eislandschaften und Nacktbadeklubs.
"Weiß und blau und unberührt. So sieht die Arktis in Prospekten und Fernsehdokus aus. Weißer Schnee, blaues Eis, blauer Himmel, mittendrin im Bild fluffige Bären, alles so schön sauber." Manchmal trifft diese Beschreibung tatsächlich zu. Aber eben nicht immer. "Die ganze Wahrheit ist, dass man mancherorts ziemlich angestrengt am Müll vorbeifotografieren muss, wenn das Ergebnis nach Unberührtheit aussehen soll."
Das schreibt Birgit Lutz in "Mein Spitzbergen", erschienen im Mare-Verlag, eine "Liebeserklärung an eine Inselwelt, die so, wie sie war, nicht mehr sein wird", heißt es zu Beginn. In ihrem Buch erzählt die Autorin kurzweilig und informativ von der Wildheit und Fragilität der Inselgruppe und vom Zusammenhalt der wenigen Menschen dort nördlich des Polarkreises.
Dafür trägt sie Fakten und Kurioses zusammen und reichert ihr Spitzbergen-Porträt mit persönlichen Erlebnissen an. Zum Beispiel berichtet sie davon, wie sie für drei Wochen eine abgelegene Hütte hütete und dort schon das Wasserholen mit den Schlittenhunden eine fast tagesfüllende Aufgabe war - inklusive Bauchklatscher im Pappschnee. Oder wie sie ein Zertifikat im Nacktbaden erhielt. Die Urkunde bekommt nur, wer bei dem eisigen Bad mit dem Kopf unter Wasser taucht. Und das müssen zwei Menschen bezeugen: eine Person des anderen Geschlechts und eine Person von der Wetterstation, die den "Nakenbadeklubb" betreibt.
Vorrang für Eisbären
Für die gebürtige Bayerin ist die Arktis zur zweiten Heimat geworden. Lutz ist mehrmals zum Nordpol gelaufen, hat selbständig Grönland durchquert, Wal- und Robbenfänger begleitet, reist als Guide oder Expeditionsleiterin auf Schiffen mit. Und seit 16 Jahren kommt sie immer wieder nach Spitzbergen und stellt fest, dass sich dort durch Politik und Klimakrise viel verändert.
Spitzbergen liegt etwa 1300 Kilometer vom Nordpol entfernt im Arktischen Ozean und ist weltweit eines der nördlichsten bewohnten Gebiete. In Longyearbyen, dem Hauptort, leben um die 2500 Menschen, die meisten nur für ein paar Jahre, um zu forschen oder zu arbeiten. In fast allen Gebäuden laufen sie ausschließlich auf Socken, ihre Häuser sind nie abgeschlossen, in den Autos stecken sogar die Zündschlüssel und ohne Warnpistole und Gewehr verlässt niemand den Ort - wegen der Eisbären. Die haben im Übrigen, das signalisieren Schilder, auf Straßen immer Vorrang.
Eine weitere Besonderheit ist die rechtliche Grundlage auf Spitzbergen. Der Spitzbergenvertrag von 1920 spricht Norwegen die Souveränität über die entmilitarisierte Inselgruppe zu. Gleichzeitig werden den Bürgerinnen und Bürgern aller Unterzeichnerstaaten gleiche Rechte auf Arbeit, Handel und Schifffahrt garantiert.
"Schleichende Norwegisierung"
Doch "seit geraumer Zeit knirscht es in dem einst so friedvollen und mühelos dahinlaufenden Getriebe", schreibt Lutz: Nicht-Norweger sind von den Wahlen ausgeschlossen, ihre Führerscheine wurden teilweise völlig überraschend nicht mehr anerkannt und Corona-Hilfen erhielten nur Firmen mit norwegischer Beteiligung. Die "schleichende Norwegisierung", wie sie es nennt, könnte laut Lutz ein Zeichen dafür sein, dass Norwegen seinen Einfluss ausbauen und sich damit den Anspruch auf die rund um Spitzbergen vermuteten Bodenschätze - Öl, Gas und seltene Erden - sichern möchte.
In abwechslungsreichen Kapiteln entwirft Lutz ein vielfältiges Bild von Spitzbergen und taucht dabei auch in die Vergangenheit ein: Sie erinnert an eine der ersten Trapperinnen, die sich mit ihren zwei Kindern in den 1930er-Jahren durch die Wildnis schlug, und an den tragischen Versuch von Salomon August Andrée, der 1897 mit zwei Begleitern den Nordpol in einem Wasserstoffballon erreichen wollte. Ihre Skelette wurde 33 Jahre später durch Zufall auf der abgelegenen Spitzbergen-Insel Kvitøya gefunden.
Auch die tierische Welt kommt nicht zu kurz, Lutz streut kleine Beschreibungen von Vögeln ein wie den Krabbentauchern, die mit ihrer Rückkehr jedes Jahr kreischend den Sommer einläuten. Und natürlich nimmt Lutz die Leserinnen und Leser mit auf ihre Expeditionsreisen und lässt bei der Einfahrt in einen Fjord plötzlich faszinierende Eislandschaften aus dem Nebel auftauchen. Sie schwärmt von dem unvergleichlichen Licht zur blauen Stunde ("Alles wurde in so sattes Blau gemalt, dass man bald den Eindruck gewann, man könne diese Farbe anfassen") und der "Reizarmut". Die Arktis habe ihre "Sensoren geschärft (…). Das ist in der Wildnis gut, in der Zivilisation manchmal hinderlich".
Allgegenwärtige Klimakrise
Wie ein roter Faden zieht sich die Frage durch das Buch, wie lange es noch möglich sein wird, Spitzbergens Schönheit zu bewundern. Die Klimakrise ist allgegenwärtig, zum Beispiel wenn Lutz an einem ihr gut bekannten Gletscher entdeckt, dass dort innerhalb weniger Monate große Teile verschwunden sind. Ihr selbst wurden die Auswirkungen der Erderwärmung vor zehn Jahren auf erschreckende Art schlagartig bewusst: 2015 riss eine Schneelawine in Longyaerbyen Häuser mit sich und tötete einen Mann und ein Kind.
Für die Menschen heiße das: "Die Sicherheit ist dahin. Die Arktis tut nicht mehr, was die Arktis immer tat, man kann sich auf vieles nicht mehr verlassen." Lutz hat es sich zur Aufgabe gemacht, über diese Veränderungen aufzuklären und selbst etwas dafür zu tun, um die Arktis zu retten, unter anderem mit einem Müllprojekt: Gemeinsam mit den Gästen der Expeditionsschiffe säubert sie Spitzbergens Strände von Unrat. Meistens finden sie dort Gegenstände, die mit der Fischerei zu tun haben, Seile und Netze, Männerdeos und Joghurtbecher, aber auch "unheimlich viele dieser Polyesterbänder, die man um Pakete herumschweißt".
Und so ist Lutz' Buch viel mehr als eine eindrucksvolle Liebeserklärung: Es ist ein Plädoyer, alles dafür zu tun - und sei der eigene Beitrag noch so winzig -, um die Schönheit und Einzigartigkeit der Arktis zu bewahren.
Quelle: ntv.de