Isaak knackt den Code Dieser ESC schreibt Skandal-Geschichte

Am Ende muss es die neutrale Schweiz richten. Nemo gewinnt für sie mit dem Song "The Code" den Eurovision Song Contest im schwedischen Malmö. Isaak rettet unterdessen mit "Always on the Run" allen Unkenrufen zum Trotz die deutsche ESC-Ehre. Doch irgendwie ist das alles nur Nebensache.
Die Schweiz hat gewonnen. Deutschland wird endlich mal wieder nicht Letzter, sondern landet auf dem 12. Platz. Unter dem Gesichtspunkt nachrichtlicher Relevanz könnte man es dabei belassen. So sehr stand der diesjährige Eurovision Song Contest (ESC) in Schweden im Schatten von politischen Kontroversen, Protest und Terrorangst. Am Ende sind alle vor allem darüber froh, dass es summa summarum dann doch friedlich geblieben ist in Malmö. Einem unglaublichen Aufgebot von Polizei, Security-Personal und wohl sogar Geheimdienst-Kräften sei Dank.
Die vielleicht hehre, aber ebenso naive Idee der verantwortlichen Europäischen Rundfunkunion (EBU), man möge den ESC doch bitte als eine unpolitische Love-, Peace- und Harmony-Veranstaltung begreifen, hat schon in der Vergangenheit oft nicht verfangen. Noch nie aber ist sie derart krachend gescheitert wie in diesem Jahr. Und das in erster Linie nicht wegen dem, was sich außerhalb der Malmö Arena und der ESC-Blase an antiisraelischen Kundgebungen auf Malmös Straßen abspielte. Sondern vor allem, weil die giftige - oder nennen wir das Kind beim Namen: antisemitische - Atmosphäre vor Künstlern, Delegationen und Publikum nicht Halt machte.
So hielten es etwa ESC-Teilnehmer wie Bambie Thug aus Irland oder der letztlich aus anderen Gründen geschasste Niederländer Joost Klein für eine gute Idee, die große Weltpolitik mal eben an einer 20-Jährigen wie der israelischen Vertreterin Eden Golan abzuarbeiten. Bambie Thug etwa erklärte, sogar geweint zu haben (!), weil Golan sich für das Finale qualifiziert hatte. Klein trug seine feindselige Haltung offen zur Schau, indem er sich auf einer Pressekonferenz unter einer niederländischen Flagge versteckte und dumme Sprüche riss, während Golan sprach. Als ein Journalist die Israelin etwa fragte, weshalb sie mit ihrer Anwesenheit andere Menschen in Malmö gefährde, und der Moderator erklärte, die Sängerin müsse das nicht beantworten, entfuhr es dem Niederländer: "Warum nicht?"
Zu diesem Zeitpunkt hatte Golan bereits Morddrohungen erhalten. Sie konnte sich kaum aus dem Hotelzimmer trauen und wenn doch, dann nur unter massivem Polizeischutz. Eine mögliche Terrorgefahr in Malmö ging nicht etwa von Jüdinnen und Juden aus, sondern von gewaltbereiten Islamisten. Man hätte Klein bei seiner Frage "Warum nicht?" am liebsten geschüttelt: Weil es blanker Antisemitismus und eine Täter-Opfer-Umkehr par excellence ist, ausgerechnet die Israelin als Schuldige dafür hinzustellen, dass in Malmö die Angst umgeht.
"Ich liebe euch alle!"
Doch dabei blieb es nicht. Mitarbeiter des belgischen Fernsehens blendeten während des zweiten Halbfinales eine israelkritische Botschaft ein. Die ursprünglich vorgesehenen Punktesprecher mehrerer Länder, darunter die ESC-Teilnehmer aus Finnland und Norwegen 2023, Käärijä und Alessandra Mele, warfen kurz vor dem Finale unter Hinweis auf Israels Teilnahme das Handtuch und mussten ersetzt werden. Bei aller berechtigten Kritik, die man an Israels Vorgehen im Kampf gegen die Hamas im Gazastreifen üben kann und darf - ähnlich drastische Reaktionen blieben in der Vergangenheit aus, wenn der ESC etwa im autoritär geführten Aserbaidschan über die Bühne ging, die Diktatur Belarus oder auch Russland noch nach der Annexion der Krim fröhlich mitfeierten.
Der Nährboden für das, was sich dann am Samstagabend in der Malmö Arena abspielen sollte, war somit gelegt. Hinzu kam noch der Ausschluss von Joost Klein, der jedoch nichts mit seinem Verhalten gegenüber Eden Golan zu tun hatte. Vielmehr soll der Niederländer eine ESC-Mitarbeiterin bedroht haben. Und zwar übel, wie hinter vorgehaltener Hand gemunkelt wird. So übel, dass sogar die Polizei Ermittlungen gegen ihn aufnahm - und die EBU letztlich wohl keine andere Möglichkeit sah, als zum ersten Mal in der ESC-Geschichte einen Teilnehmer im laufenden Wettbewerb zu disqualifizieren.
Angesichts seines Verhaltens in Malmö wirkt der Text von Kleins eigentlichem ESC-Beitrag "Europapa", der zwar gaga daherkommt, aber ganz im Sinne der ESC-Statuten durchaus als Loblied auf Love, Peace und Harmony verstanden werden kann, geradezu bizarr: "Europa, lasst uns zusammenkommen. Jetzt oder nie! Ich liebe euch alle!" Den vielen Fans, die der 26-Jährige nicht nur unter den Niederländern mit dem Lied gewonnen hatte, stieß das jedoch offenbar nicht auf. Bei ihnen überwog die Enttäuschung über den Rauswurf ihres Favoriten - ganz egal, wie er sich benommen hatte.
Die perfekte Melange
All dies zusammengenommen war die perfekte Melange, um den Song Contest 2024 als ultimativen Skandal-ESC in die Geschichte eingehen zu lassen. Ihre Unschuld - und das ist gut so - hat die Veranstaltung schon lange verloren. Dafür musste man sich nicht erst etwa die diesjährigen Beiträge von Spanien, Finnland oder Slowenien mit leicht bekleideten Männlein und Weiblein zu Gemüte führen. Doch in Malmö hat der ESC sich einen schwarzen Fleck eingefangen, der sich nicht so leicht abstreifen lässt wie Pumps, Hotpants oder ein Catsuit. Ausgerechnet der ESC, der sich sonst als Hort von Toleranz, Vielfalt und Nächstenliebe geriert.
So wurde Golan bei ihrem Auftritt in der Malmö Arena mindestens ebenso laut ausgebuht wie gefeiert. Jedes Mal, wenn Bilder von ihr später im Schnelldurchlauf über die Leinwände flimmerten, waren eigentlich nur noch Buhrufe zu hören. Dies hörte auch nicht auf, als die nationalen Jurys zur Verkündung ihrer Punktevergabe schritten - im Gegenteil. Jedes Land, das den israelischen Beitrag in irgendeiner Form für punktewürdig hielt, wurde mit lautstarken Unmutsbekundungen bedacht.
Nicht besser erging es ESC-Chef Martin Österdahl von der EBU. Er trat nicht nur in Erscheinung, um seine notorischen Worte "You are good to go" zu sagen, wenn die Abstimmungsergebnisse feststanden. Er übernahm auch die Aufgabe, die Punkte der niederländischen Jury zu verkünden, weil diese sich nach Kleins Disqualifikation geweigert hatte, dies selbst zu tun. Auch Österdahl wurde in Grund und Boden gebuht und mit "Europapa"-Sprechchören übertönt.
Jurys bremsen Publikumsliebling aus
Golans Song "Hurricane" gehörte zweifelsohne zu den stärkeren Beiträgen in diesem Jahr. Dabei hatte sie das Lied sogar noch umtexten müssen, da der Originaltitel "October Rain" die EBU zu sehr an das Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 mit rund 1200 Toten in Israel erinnerte (das Massaker, das von all den israelkritischen Stimmen beim ESC mit keiner Silbe erwähnt wurde). Von den Jurys wurde Golan mit insgesamt 52 Punkten - darunter 8 aus Deutschland - und einem mittelmäßigen 12. Platz bedacht.
Ganz anders sah es dagegen beim TV-Publikum aus, das der Israelin sage und schreibe 323 Punkte zuschanzte. Hätte es allein entschieden, so wäre Golan in Malmö auf dem zweiten Platz gelandet. In der Gunst der deutschen Zuschauer stand die Sängerin sogar auf Platz eins. In der Summe aus Jury- und Zuschauer-Punkten kam Golan schließlich zumindest auf den 5. Platz. So ist es am Ende tatsächlich den Menschen vor den Fernsehern zu verdanken, die offenbar über mehr Gespür, Empathie und Weitblick verfügen als so manche Protagonisten in der ESC-Blase, dass der schwarze Fleck von Malmö irgendwann doch noch einmal verblassen mag.
Mehr Übersicht erwies das Publikum auch mal wieder, als es um die Krönung des ESC-Gewinners ging. Denn tatsächlich vergab es an einen Beitrag noch mehr Punkte als an Golan - an Baby Lasagna mit "Rim Tim Dagi Tim" aus Kroatien. Mit 337 Punkten sahen die Zuschauer den Sänger vorn, der sich in den Tagen zuvor schon längst als Liebling der Massen herauskristallisiert hatte. Das hatte man auch in Zagreb mitbekommen, wo die dortige Veranstaltungshalle bereits vorsorglich für sechs Wochen im kommenden Jahr geblockt wurde. Doch Pustekuchen: Weil die Jurys den Ohrwurm mit Rammstein-Sound aus Kroatien mit 210 Punkten nur auf dem dritten Platz gesehen hatten, reichte es in der Summe für Baby Lasagna nur für Rang zwei im Ranking.
"Ich hab's euch doch gesagt"
Den Sieg fuhr dafür ein anderer ein: Nemo mit "The Code" aus der Schweiz. Der nichtbinäre Act zählte zwar ebenfalls zum Favoritenkreis in Malmö, war zuletzt in den Prognosen aber dann doch deutlich hinter Baby Lasagna zurückgefallen. Egal: Weil zahlreiche Jurys Nemo ganz vorne sahen und die Schweiz mit 12-Punkte-Wertungen geradezu überhäuften, kamen 365 Punkte zusammen. Das TV-Publikum bedachte "The Code" lediglich mit 226 Punkten und dem fünften Platz. Aber in der Summe war es genug, um die Eidgenossen triumphieren zu lassen.
Dass der Siegerpokal, den Nemo nach seiner Überreichung erst mal zerdepperte, beim Skandal-ESC 2024 ausgerechnet an die neutrale Schweiz geht, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Nemo überzeugte dabei mit einem wirklich außergewöhnlichen Song und viel Gleichgewichtssinn bei seinem spektakulären Auftritt auf einem Drehteller. Dennoch hat es einen schalen Beigeschmack, dass nun zum zweiten Mal in Folge der Publikumssieger zum Schluss leer ausgeht. 2023 hatte der bereits erwähnte Finne Käärijä mit "Cha Cha Cha" ebenfalls das Nachsehen, obwohl er in der Sympathie der Zuschauer klar vorne lag. Die stattdessen siegreiche Loreen konnte nur dank der Jurys als erste Frau, die den Contest zwei Mal gewonnen hat, ESC-Geschichte schreiben.
Nemo singt zwar "I broke the code". Doch der, der den Code eigentlich in Malmö geknackt hat, heißt Isaak. "Ich hab's euch doch gesagt", erklärte er kurz vor dem Finale im ntv.de-Interview, als die Wettquoten für ihn allmählich immer weiter nach oben gingen. Und siehe da: Der 29-Jährige aus dem schönen Espelkamp, den wir fortan wohl getrost als Ex-Straßenmusiker bezeichnen dürfen, hat tatsächlich geschafft, was viele ihm partout nicht zutrauen wollten. Nach Jahren der Pleiten, des Pechs und der Pannen hat er Deutschland vom letzten oder vorletzten Platz wieder aus dem Tal der Tränen beim ESC geführt. Am Ende ergatterte er den 12. Platz - und damit eine Position in der vorderen Tabellenhälfte.
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Jurys helfen Isaak
Er sei zufrieden, sagte er nach dem Finale sichtlich gelöst, aber auch müde über sein Abschneiden. Und das kann er auch. Keine Frage: Isaak zählte zu den besten Sängern in diesem Jahr und brachte seine Performance mit "Always on the Run" solide auf den Punkt, ohne auch nur eine Note zu versemmeln. Allerdings: In seinem Fall haben die Jurys wiederum ein gutes Stück weit an der passablen Platzierung mitgewirkt. Mit 99 Punkten wählten sie ihn auf den 10. Platz. Das Publikum hätte Isaak dagegen mit nur 18 Punkten zu Rang 19 verdonnert. Aber wie heißt es so schön? Der ESC hat seine eigenen Gesetze, die wir in diesem Fall gern zu unseren Gunsten auslegen, um uns mit Isaak über Platz 12 zu freuen.
So lassen sich zwei Lehren aus dem ESC 2024 ziehen. Erstens: Mit Deutschland darf es in Zukunft gerne in diese Richtung weitergehen. Zweitens: Mit dem ESC kann es so nicht weitergehen. Ein ähnliches Desaster wie in Malmö darf sich nicht wiederholen, soll es die Eurovision nicht auseinanderreißen. Das zu bewerkstelligen, ist Aufgabe der EBU. In ihrer Haut möchte man gerade nicht stecken.
Quelle: ntv.de