Fußball

Die DFB-Elf in der Einzelkritik Stolze Weltmeister am Rande der Verzweiflung

Für Jérôme Boateng war das Spiel verletzungsbedingt zu Ende.

Für Jérôme Boateng war das Spiel verletzungsbedingt zu Ende.

(Foto: imago/Matthias Koch)

Am Ende kommt es so, wie es nicht hätte kommen müssen: Deutschlands Fußballer scheitern im Halbfinale der EM an Frankreich und hadern mit dem Schicksal. Auch, weil nicht alle so cool sind, wie sie bisweilen wirken.

Die Sporttageszeitung "L'Équipe" hatte es offenbar geahnt. "Jour de gloire" hatte sie am Tag des Spiels getitelt und damit aus der französischen Nationalhymne, der Marseillaise, zitiert, die mit den Worten beginnt: "Auf, auf Kinder des Vaterlands! Der Tag des Ruhmes, der ist da." In der Tat war dieses Halbfinale der Fußball-Euromeisterschaft am Donnerstagabend vor 64.078 Zuschauern im Stade Vélodrome in Marseille ein ruhmreiches, zumindest für die Gastgeber. Frankreich schlug Deutschland mit 2:0 (1:0), besiegte den in der Historie ungleich erfolgreicheren Nachbarn zum ersten Mal seit 1958 bei einem Turnier und trifft nun im Endspiel am Sonntag im Stade de France zu Saint Denis auf Portugal.

Die Mannschaft von Joachim Löw hingegen hatte sich das alles ganz anders vorgestellt, trat selbstbewusst auf und schien die Sache im Griff zu haben. Aber dann kam es, wie es nicht unbedingt hatte kommen müssen. Erst spielt Bastian Schweinsteiger den Ball mit der Hand, dann schlief die halbe Abwehr und zu allem Überfluss verletzte sich auch noch Jérôme Boateng. Was blieb, waren stolze Weltmeister am Rande der Verzweiflung und ein enthusiasmiertes französisches Publikum, das zum Ende hin jeden Pass der Blauen mit Olé-Rufen begleitete. So blieb dem Bundestrainer nur das Fazit: "Alle sind wahnsinnig enttäuscht, dass wir ausgeschieden sind. Wir hatten heute nicht das Glück auf unserer Seite." Dennoch habe sein Team "ein gutes Turnier gespielt, mit viel Leidenschaft". Gereicht hat es am Ende nicht. Die deutschen Spieler in der Einzelkritik:

Manuel Neuer: Es schien wieder so ein Abend zu werden, an dem der 30 Jahre alte Torhüter des FC Bayern einfach nicht zu überwinden ist, so souverän begann er sein 71. Länderspiele. Nach sieben Minuten parierte er einen Schuss eines gewissen Antoine Griezmann, auch zwei Freistöße von Paul Pogba waren kein Problem. Doch dann, kurz vor der Pause, entschied der italienische Schiedsrichter Nicola Rizzi zu Recht auf Elfmeter, weil Bastian Schweinsteiger im Duell mit Frankreichs Linksverteidiger Patrice Evra den Ball mit der Hand berührt hatte. Und dieses Mal gewann Griezmann das Duell mit Neuer, der chancenlos war. Auch beim zweiten Tor konnte er nur versuchen, zu verhindern, was zu verhindern war. Und das war nicht viel, wie Griezmann geahnt hatte. Allerdings formulierte er das etwas uncharmant: "Ich habe auf einen Fehler des Torwarts gehofft, der Ball fiel genau vor meine Füße." Neuer jedenfalls war bedient: "Wir haben eine gute EM gespielt, aber sind ausgeschieden. Und das ist sehr bitter. Das ist ein Halbfinale, blödere Momente gibt es nicht."

Joshua Kimmich: Auch in seinem fünften Länderspiel machte der 21 Jahre alte Münchner seine Sache am rechten Ende der Viererkette durchaus ordentlich. Mehr aber auch nicht, mehrere kleine Abwehrfehler ließen erahnen, dass er vielleicht doch nicht immer so cool ist, wie er meist wirkt. Vor dem 0:2 in der 72. Minute überließ er Pogba allzu leichtfertig den Ball am Strafraumeck. Das kann passieren, war aber in dieser Situation eher ungünstig. Allerdings hätte danach einer von Kimmichs Kollegen den Mittelfeldspieler der Franzosen ruhig daran hindern können, das Spielgerät danach in den Fünfmeterraum zu flanken. Zudem hatte er bei seinen zahlreichen Vorstößen in seinem Zweitjob als Rechtsaußen zweimal Pech beim Versuch, ein Tor zu erzielen; einmal mit dem Kopf, insbesondere aber, als er direkt nach seinem folgenschweren Fehler den Ball an den Pfosten zirkelte.

Boateng schied verletzt aus.

Boateng schied verletzt aus.

(Foto: imago/Schüler)

Jérôme Boateng: Der 27 Jahre alte Innenverteidiger des FC Bayern war im 65. Länderspiel wie gewohnt der Souverän, auch wenn er drei Minuten vor der Pause tatsächlich ein Kopfballduell gegen den französischen Angreifer Olivier Giroud verlor. Dass sich das Ganze an der Mittellinie zutrug, zeigt aber auch, wie hoch die deutsche Mannschaft bisweilen verteidigte. Und zu seinem Glück und dem seiner Mannschaft sprang der Kollege Benedikt Höwedes ein. Ansonsten war Boateng derjenige, der sich gemeinsam mit Schweinsteiger ums Aufbauspiel kümmerte, meist mit klugen und gerne auch diagonalen Pässen. Wie unverzichtbar er ist, zeigte sich vor dem 0:2, als er nicht mehr dabei war und folglich nicht mehr dazwischenhauen konnte. Denn nach einer Stunde verletzte er sich und humpelte raus. Für ihn kam der 24 Jahre alte Shkodran Mustafi vom FC Valencia in die Partie und zu seinem zwölften Länderspiel. Der Nordhesse war, wir müssen das erwähnen, einer derer, die Pogba vor dem 0:2 nicht entscheidend störten.

Benedikt Höwedes: Seine stärkste Szene in seinem 40. Länderspiel hatte der 28 Jahre alte Schalker, als er nach besagten Ballverlust des Kollegen Boateng erst 60 Meter über den Rasen sprintete, um dann zu einer Jahrhundertgrätsche abzuheben, die zumindest zu seinem ganz persönlichen Ruhm beitragen wird, zumal er den Ball traf - und nicht Giroud. Überragte als Zweikämpfer und als einer, der nie aufsteckt und 90 Minuten lang brennt. Kurz vor dem Ende der Partie, in der 82. Minute, hatte auch er Pech, als er mit einem wuchtigen Kopfball knapp das von Hugo Llloris gehütete Tor der Franzosen verfehlte.

Jonas Hector: Wenn einem dieses Turnier gutgetan hat, dann dem 26 Jahre alten Kölner, der als linker Verteidiger von Spiel zu Spiel selbstbewusster auftritt. In seinem 20. Länderspiel sorgte er dafür, dass sich der Gegner schnell entschied, doch lieber über die rechte Seite sein Glück zu versuchen. Er spiele so cool, wie er eigentlich gar nicht aussieht. Ähnlich wie sein Pendant Kimmich war Hector ständig in Sachen Offensive unterwegs. Allerdings verlief die Kooperation mit dem Kollegen Julian Draxler nicht so, dass daraus etwas Entscheidendes entstanden wäre. Und ein kleiner Makel bleibt: In der Nachspielzeit der ersten Hälfte klärte er den Ball ohne Not zur Ecke - die dem Gegner durchaus etwas einbrachte. Es folgte nämlich die Szene, in der Schweinsteiger den Ball mit der Hand berührte.

Emre Can im Duell mit Olivier Giroud.

Emre Can im Duell mit Olivier Giroud.

(Foto: dpa)

Emre Can: Nachdem Löw vor diesem Halbfinale angekündigt hatte, dass Schweinsteiger spielt, überraschte es doch, dass der 22 Jahre alt Liverpooler ebenfalls in der Startelf stand. Bisher stets als Rechtsverteidiger eingesetzt, erweiterte er in seinem siebten Länderspiel die Sechserriege neben Schweinsteiger und Toni Kroos auf drei. Das funktionierte nur leidlich, obwohl er sich bei seinem ersten und - wie wir nun wissen -  letzten Auftritt bei dieser EM redlich bemühte, seinem Ruf als Sami-Khedira-Double, der verletzt fehlte, alle Ehre zu machen. Und das nicht nur optisch - eine gewisse Ähnlichkeit ist nicht zu leugnen - sondern auch mit beherztem Einsatz und kraftvollen Vorstößen. Der erste Sprint dieser Art endete allerdings gleich mit einem Fehlpass. Mit er Zeit beruhigte er sich etwas und gewann an Sicherheit. Und nach einer Viertelstunde hätte er beinahe das 1:0 erzielt, doch Lloris fischte seinen Schuss aus dem Winkel. Nach 67 Minuten und zwei Toren Rückstand war Schluss. Der Bundestrainer schicke für ihn dann doch Mario Götze auf dem Rasen, nachdem er in der Startelf keinen Platz für ihn gefunden hatte. Der 24 Jahre alte Münchner hat jetzt 56 Länderspiele auf seinem Konto. Die Wende brachte er nicht.

Bastian Schweinsteiger: Machen wir es kurz: Der 31 Jahre alte Mittelfeldspieler von Manchester United war in seinem 120. Länderspiel die tragische Figur. Eine Halbzeit lang überragte er, ließ sich mal als eine Art Libero zwischen die Innenverteidiger zurückfallen, lenkte mal das Spiel seiner Mannschaft mit klugen Pässen und wirkte tatsächlich so fit, wie der Bundestrainer es angekündigt hatte. Und dann kam die Sache mit dem Handspiel - und alles war für die Katz. Dass er nach 79 Minuten den Platz für den 20 Jahre alten Leroy Sané räumen musste, war seiner Ermattung geschuldet und der Hoffnung, dass der junge Schalker in seinem vierten Länderspiel und bei ersten Einsatz bei diesem Turnier irgendetwas zum Guten verändert. Das gelang ihm nicht, die Aufgabe war zu schwer, auch wenn er für etwas Wirbel sorgte.

Kroos: Cool.

Kroos: Cool.

(Foto: imago/Contrast)

Toni Kroos: Etwas offensiver als sonst war der 26 Jahre alte Stratege von Real Madrid in seinem 71. Länderspiel die gewohnt zuverlässige Ballverteilungsstation und war so mit dafür verantwortlich, dass die DFB-Elf die erste Halbzeit dominierte. Und was den Faktor Coolness betrifft, können sich die Kollegen Kimmich und Hector von ihm noch was abschauen. Und er war einer derjenigen, die sich am meisten gegen die Niederlage stemmten, wenn auch letztlich erfolglos und mit zunehmender Dauer am Rande der Verzweiflung. Sein Fazit klang dann allerdings tatsächlich etwas seltsam: "Wir haben heute unser bestes Spiel bei der EM gemacht - so komisch das klingt nach einem 0:2. Ich kann der Mannschaft nichts vorwerfen. Wir hatten gute Möglichkeiten und geraten dann wieder nach so einer blöden Aktion in Rückstand." Einen schönen Gruß an den Kapitän. Und an den Kollegen Boateng, dem im Viertelfinale gegen Italien Ähnliches untergekommen war.

Mesut Özil: Apropos Viertelfinale - der 27 Jahre alte Mittelfeldspieler vom FC Arsenal knüpfte in seinem 79. Länderspiel an die starke Leistung gegen Italien an, bestach durch sein Durchsetzungsvermögen und die Tatsache, dass er stets anspielbar war. Er wechselte ständig die Position und war in der Offensive eigentlich überall zu finden. Auch er ist einer, der sich bei dieser EM von Partie zu Partie gesteigert hat. Schade eigentlich, dass jetzt Schluss ist. Aber Özil kann's halt auch nicht alleine richten. Und wenn etwas bezeichnend für die Gemütsverfassung der deutschen Mannschaft nach dem zweiten französischen Tor war, dann die Szene in der 81. Minute, als Özil mit letzter Energie nach einer Lösung suchte - und schließlich mit dem Ball am Fuß unter dem Gejohle der Fans im Seitenaus landete. Olé!

Julian Draxler: Gegen die Slowakei im Achtelfinale hatte der 22 Jahre alte Wolfsburger bewiesen, dass er einer ist, der den Gegner auch mal ausspielen kann. Beim Spiel gegen Italien fiel er der taktischen Ausrichtung zum Opfer, nun in Marseille stand er wieder in der Startelf und sollte über den linken Flügel für ebenjene Aktionen sorgen, die den Unterschied ausmachen können. Das tat er allerdings viel zu selten. Fürwahr: Ein paar nette Tricks waren dabei, fleißig war er auch; aber insgesamt überzeugte er in seinem 24. Länderspiel eher nicht. Er bemühte sich redlich, setzte sich allerdings nicht entscheidend durch.

Thomas Müller: Das war nicht sein Turnier. Und anders als bei einigen Kollegen war das letzte Spiel bei der EM das, in dem der 26 Jahre alte Münchner am wenigsten überzeugte. Das begann beim Aufwärmen im Stade Vélodrome, als sein erster Schuss an der Latte des Tores landete. Niemand kann ihm vorwerfen, er habe in seinem 77. Länderspiel nicht alles versucht, sich nicht bemüht, nicht gekämpft und nicht gerackert. Aber gemessen am Ausmaß der Glücklosigkeit bei seinen zunehmend verzweifelten Versuchen, doch noch irgendwie ein Tor zu erzielen, drängt sich die Frage auf, warum er über die volle Spielzeit auf dem Rasen bleiben durfte. Kurzum: Es war nicht sein Turnier.

Quelle: ntv.de

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