Wirtschaft

Zwei Crashs mit 346 Toten Boeing kämpft gegen den Absturz

Immer mehr Länder erteilen dem Unglücksflieger 737 Max Startverbot. Für Boeing geht es um alles.

Immer mehr Länder erteilen dem Unglücksflieger 737 Max Startverbot. Für Boeing geht es um alles.

(Foto: picture alliance/dpa)

War ein Design-Fehler am Autopilot Schuld am Absturz von zwei nagelneuen Boeing 737 Max 8? Deutschland und viele andere Länder sperren den Flieger. Auch die US-Aufseher zweifeln an der Sicherheit, aber eiern herum. Kein Wunder: Es geht um hunderte Milliarden Dollar.

Als Boeing im Mai 2017 das erste Exemplar seines neuen Jets 737 Max 8 an die malaysische Fluglinie Malindo auslieferte, überschlug sich die PR-Abteilung des Flugzeugbauers fast. "Dieser Jet wird das Gesicht des Markts für Schmalrumpfflugzeuge verändern", jubelte der Konzern damals. Die Max-Reihe, die runderneuerte Version des weltweit wichtigsten Verkehrsfliegers 737, sei "das sich am schnellsten verkaufende Flugzeug der Boeing-Geschichte". Der Aktienkurs des Konzerns hat sich, vor allem wegen des Erfolgs der Max-Jets, in den vergangenen zwei Jahren mehr als verdoppelt.

Boeing
Boeing 215,55

Diese Euphorie ist erst einmal verflogen. Man sei "in tiefer Trauer über den Verlust von Lion Air Flug 610" in Indonesien, teilte Boeing mit. "Wir möchten denjenigen, die Angehörige auf Flug 302 der Ethiopian Airlines verloren haben, unser tiefstes Beileid ausdrücken." Nach zwei Crashs des neuen Superfliegers in weniger als fünf Monaten mit 346 Toten steht der Flugzeugbauer unter Druck wie nie. An der Wall Street stürzte die Boeing-Aktie gestern zur Eröffnung um fast zwölf Prozent ab, am Ende ging sie mit einem Minus von fünf Prozent aus dem Handel. Auch heute geht der Sinkflug weiter.

Immer mehr Länder ziehen die Max-Flieger aus dem Verkehr. Nach China, Äthiopien und Indonesien haben nun mit Singapur, Australien, Großbritannien und Deutschland auch europäische Länder den Maschinen Startverbot erteilt. Am Abend wurde der europäische Luftraum in Gänze für die Maschinen gesperrt. Der brasilianische Billigflieger Gol, Royal Air Marokko, Comair in Südafrika, Norwegian und die Aeromexiko lassen ihre Maschinen freiwillig im Hangar. Auch Tui hat alle Flüge gestoppt, nachdem sich immer mehr besorgte Passagiere an den Reiseveranstalter gewandt hatten.

Ein Großteil der weltweit etwa 350 ausgelieferten Max-Jets ist damit bereits am Boden. Denn es steht ein fürchterlicher Verdacht im Raum: Hat ein fataler Design-Fehler am Autopiloten zum Crash der Flugzeuge geführt? Und hat Boeing Informationen über die technische Neuerung womöglich zurückgehalten, um den Verkauf seiner Jets nicht zu gefährden?

Ein Milliardengeschäft steht auf dem Spiel

Boeing-Chef Dennis Muilenberg hält sich bedeckt. Am Montag verwahrte er sich in der "New York Times" (NYT) dagegen, über "den Grund für den Absturz ohne alle nötigen Fakten zu spekulieren". Das könne "die Untersuchung gefährden". Nicht auszudenken, wenn Boeing tatsächlich verantwortlich wäre: Mehr als 5000 Bestellungen für seine neuen Max-Jets hat der Konzern bereits in den Büchern. Mittlerer Listenpreis: 100 Millionen Dollar. Für Boeing steht damit ein gigantischer Umsatz von rund 500 Milliarden Dollar über die nächsten Jahre auf dem Spiel. Die Startverbote bei den Airlines und etwaiger Schadenersatz von Crash-Opfern könnten zusätzliche Millionen kosten.

Passagieren und Piloten bangen indes nicht um Geld, sondern um ihre Sicherheit. Die US-Vereinigung der Flugbegleiter forderte in einem Brief an die Flugsicherheitsbehörde FAA eine Überprüfung der 737 Max. Nach zwei Abstürzen so kurz hintereinander seien die Aufseher gefragt, zitiert die "NYT" die Chefin des Verbands. "Unser System ist so sicher, dass solche Dinge heute nicht passieren. Darum fragen sich die Leute, was hier los ist."

Auch den Piloten wird zunehmend unwohl: "Das Zulassungsverfahren sollte genauer unter die Lupe genommen werden", sagte ein Sprecher der Piloten-Gewerkschaft von American Airlines dem Blatt. Rory Kay, Ex-Chef und Sicherheitsexperte der weltgrößten Pilotenvereinigung Alpa, sagte der Zeitung: "Wir sind sehr besorgt, warum zwei brandneue Flugzeuge plötzlich in den Sturzflug übergehen und mit der Nase voran am Boden zerschellen".

Tödlicher Kampf gegen den Computer

Seit dem ersten Crash vor Jakarta haben Experten eine Vermutung: Boeing hat womöglich nicht genug über eine neue Funktion des Autopiloten bei seinen Max-Fliegern informiert. Dieses sogenannte MCAS (Maneuvering Characteristics Augmentation System) drückt die Nase des Flugzeugs automatisch nach unten und schickt es in den Sinkflug, wenn die Maschine zu schnell steigt, um einen Strömungsabriss an den Tragflächen zu verhindern.

Laut dem vorläufigen Untersuchungsbericht waren die Sensoren der Lion-Air-Maschine schlecht gewartet und lieferten dem Bordcomputer falsche Anstellwinkel: Der Autopilot dachte offenbar, der Flieger würde zu steil steigen und schickte ihn fälschlicherweise in den Sinkflug. Die Piloten kämpften daher von Beginn an mit dem Computer um die Kontrolle: Mehr als zwei Dutzend Mal sollen sie laut "NYT" versucht haben, das Flugzeug aus dem Sinkflug wieder nach oben zu ziehen.

Dass sie den Kampf gegen die Maschine am Ende verloren, lag womöglich daran, dass Boeing bis dahin weder Airlines noch Piloten ausdrücklich über die neue Sinkflug-Funktion des Autopiloten informiert hatte - und wie man sie deaktiviert. Das "Wall Street Journal" (WSJ) berichtete im November unter Berufung auf US-Luftsicherheitsbeamte, das neue Feature sei weder in Schulungsunterlagen noch Gesprächen mit den Aufsehern thematisiert worden. Boeing habe die neue 737 Max unter anderem damit vermarktet, dass Piloten für das neue Modell nicht neu geschult werden müssten, schrieb das Blatt.

Eine Woche nach dem Crash verschickte Boeing dann plötzlich eine weltweite Sicherheitswarnung an alle Kunden, dass es unter unglücklichen Umständen zu der vermuteten Fehlfunktion bei dem 737 Max-Autopiloten kommen könne, selbst wenn Piloten das Flugzeug manuell steuern. Inzwischen wurde die Betriebsanleitung überarbeitet und die 737-Betreiber darauf hingewiesen, wie auf die wahrscheinliche Unglücksursache zu reagieren sei.

Geld oder Sicherheit? Ein politischer Drahtseilakt

Die große Frage lautet nun: War eine Fehlfunktion des Autopiloten auch der Grund für den zweiten Absturz in Äthiopien? Laut dem Chef von Ethiopian Airlines haben auch die Piloten der zweiten Unglücksmaschine kurz vor dem Crash von Problemen berichtet, die Maschine unter Kontrolle zu halten. Welche Probleme es genau waren, ist unklar. Die Piloten seiner Airline hätten nach dem ersten Crash in Indonesien zusätzliche Schulungen zu der Software der 737 Max erhalten. Die Untersuchung der Unglücksursache läuft auf Hochtouren. Die gefundenen Flugschreiber sind zur Auswertung auf dem Weg ins Ausland.

Die Luftfahrtbehörden weltweit müssen nun in all der Ungewissheit die Interessen von Industrie und Passagieren ausbalancieren. Angesichts der potentiellen wirtschaftlichen Schäden für Boeing und die Airlines einerseits und der womöglich tödlichen Gefahr für Leib und Leben andererseits ist das ein Drahtseilakt. Die Entscheidung über Startverbote sei "genauso eine technische wie eine politische Frage", kommentiert die Finanzagentur "Bloomberg".

Für die meisten Behörden außerhalb der USA gehen die Passagiere vor: "Bis alle Zweifel ausgeräumt sind, habe ich veranlasst, dass der deutsche Luftraum für die Boeing 737 Max ab sofort gesperrt wird", sagt Verkehrsminister Andreas Scheuer. "Angesichts zweier tödlicher Unfälle ist die vorübergehende Stilllegung der 737-Max-Flugzeuge im besten Interesse der Sicherheit", teilt die australische Luftsicherheitsbehörde mit.

Die US-Luftfahrbehörde FAA dagegen eiert nach dem zweiten Crash in Äthiopien herum: "Diese Untersuchung hat erst begonnen und bisher haben wir keine Daten erhalten, um Schlussfolgerungen zu ziehen oder Maßnahmen zu ergreifen", teilte sie am Montag mit. Doch im selben Schreiben gab sie bekannt, dass sie Boeing ab April Design-Änderungen an der fraglichen Sinkflug-Automatik verordnen wird - und nährt damit den Verdacht, dass es womöglich wie vermutet ein Problem mit dem Autopiloten der 737 Max gibt. Gleichzeitig teilt Boeing mit, man habe gemeinsam mit den Aufsehern seit dem ersten Absturz in Indonesien schon monatelang an der neuen Software gebastelt. Angeblich geht es dabei nur darum, "ein bereits sicheres Flugzeug noch sicherer zu machen".

Auch in den USA könnte sich das Blatt daher nun bald wenden. In Washington trauen die ersten Politiker dem Frieden nicht mehr. "Alle Boeing 737 Max 8 müssen am Boden bleiben, bis US-Passagieren versichert werden kann, dass die Flugzeuge sicher sind", fordert der einflussreiche demokratische Senator Richard Blumenthal auf Twitter.

Quelle: ntv.de

Social Networks
Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen