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Kekulé fordert Impfferien Diese Strategie hilft gegen Omikron

Alexander Kekulé ist Virologe, Epidemiologe und Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie am Universitätsklinikum Halle (Saale).

Alexander Kekulé ist Virologe, Epidemiologe und Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie am Universitätsklinikum Halle (Saale).

(Foto: picture alliance / Eventpress)

Weihnachts-Lockdown oder erst einmal abwarten? Politik und Wissenschaft debattieren, wie Deutschland auf die bevorstehende fünfte Welle der Pandemie reagieren soll. Aktuelle Daten legen nahe, dass wir mit den erprobten Corona-Maßnahmen nicht weiterkommen werden.

Die Omikron-Variante hebt sich von ihren Vorgängern so sehr ab, dass man als Virologe regelrecht ins Schwärmen geraten könnte. Die Natur hat an 59 Stellschrauben gedreht, um das Pandemievirus Sars-CoV-2 gegenüber dem ursprünglichen Wuhan-Prototyp zu verbessern. Omikron kann Geimpfte und Genesene anscheinend mühelos infizieren - die Immunabwehr wird ausgetrickst wie ein Anfänger im Schach, der gegen den Großmeister antritt. Zudem ist Omikron wahrscheinlich ansteckender als seine Vorgänger. Den Türöffner zu den Zellen der menschlichen Atemwege, den ACE2-Rezeptor, bedient der Neuling doppelt so gut wie Delta und viermal besser als der gemeinsame Urahn aus China, mit dem die Pandemie 2019 ihren Anfang nahm. Wenn die vorläufigen Ergebnisse einer Arbeitsgruppe aus Hongkong stimmen, kann sich die neue Variante zudem besonders effektiv in den Bronchien vermehren.

Trotz allem deutet vieles darauf hin, dass die Infektionen in der Omikron-Welle vergleichsweise harmlos verlaufen. Das liegt wahrscheinlich nicht am Virus selbst, sondern an der durch Impfungen und frühere Infektionen verbesserten Immunität der Bevölkerung. In Südafrika verursacht Omikron im Vergleich zur Delta-Variante nur ein Zehntel der Krankenhauseinweisungen, auch der Anteil intensivpflichtiger stationärer Covid-Patienten ist deutlich geringer. Die Daten der südafrikanischen Gesundheitsbehörde für Infektionskrankheiten lassen vermuten, dass dies vor allem an einer hohen Infektionsrate unter Genesenen und Geimpften liegt. In der anfangs besonders betroffenen Provinz Gauteng, zu der die Hauptstadt Pretoria und die Metropolregion Johannesburg gehören, besitzen rund 70 Prozent der Bevölkerung Antikörper gegen Sars-CoV-2. Da die Impfquote bei nur 30 Prozent liegt, stammt ein Großteil der Immunität von früher durchgemachten Infektionen.

Dass sich Staaten mit weniger Genesenen und älterer Bevölkerung auch durch eine hohe Impfquote vor schweren Verläufen durch Omikron schützen können, zeigt sich derzeit in Dänemark. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung liegt hier bei 42 Jahren, 90 Prozent der Erwachsenen sind vollständig geimpft. Während sich die Infektionszahlen alle zwei bis drei Tage verdoppeln, erhöhten sich die Krankenhauseinweisungen seit Anfang Dezember nur um 6 Prozent und die Zahl der Todesfälle ist sogar geringfügig zurückgegangen. Auch im Omikron-Hotspot London, wo die bestätigten Infektionen ebenfalls rapide zunehmen, ist ein deutlicher Anstieg der Krankenhauseinweisungen bislang ausgeblieben.

Bisherige Tools sind ungeeignet

Demnach dürfte Omikron auch in Deutschland, bei einer Impfquote von 81 Prozent der Erwachsenen, deutlich seltener zu schweren Erkrankungen führen als die Delta-Variante. Auch alle bislang bekannten Laboruntersuchungen lassen den Schluss zu, dass Geimpfte und Genesene zwar kaum vor der Infektion, aber gut vor einer schweren Erkrankung durch Omikron geschützt sind (einer aktuellen, noch nicht begutachteten Studie zufolge liegt diese Schutzwirkung bei 77 Prozent). Möglicherweise würden jüngere, sonst gesunde Geimpfte und Genesene sogar von einer Omikron-Infektion profitieren, weil sie dadurch gegen zukünftige Varianten des Pandemievirus besser geschützt wären. Wenn es trotz Impfung zu schweren Verläufen kommt, sind davon fast ausschließlich Menschen im höheren Lebensalter oder mit anderen bekannten Risikofaktoren betroffen. In dieser Gruppe hat eine Boosterimpfung den stärksten Effekt, sie kann sehr wahrscheinlich die Rate der Krankenhauseinweisungen und Todesfälle deutlich senken.

Deutschland startet zudem aus einer günstigen Position in die nächste Phase der Pandemie. Als der Bundestag am 18. November endlich eine Verschärfung der Corona-Maßnahmen beschloss, war die Delta-Welle bereits gebrochen - wahrscheinlich aufgrund der Immunität durch Impfungen und durchgemachte Infektionen sowie einer auch ohne staatliche Auflagen zunehmenden Vorsicht der Bevölkerung. Die strengen Maßnahmen, die für Delta viel zu spät ergriffen wurden, erweisen sich angesichts der jetzt bevorstehenden fünften Welle als Glücksfall: Während der Übergang zur Omikron-Variante in Dänemark, dem Vereinigten Königreich, Frankreich und den USA mitten in eine grassierende Delta-Welle fällt, hat sich Deutschland eine kurze Atempause verschafft.

Mit Omikron ist die Pandemie jedoch in eine neue Phase eingetreten, für deren Bekämpfung die bisherigen Gegenmaßnahmen nicht mehr geeignet sind. Weil die neue Variante auch Geimpfte und Genesene infiziert und zudem wahrscheinlich auch noch ansteckender als Delta ist, könnte sie nur ein sofortiger, vollständiger Lockdown aufhalten. Der wäre jedoch nicht mehr verhältnismäßig, weil das Risiko für Geimpfte und Genesene ohne besondere Risikofaktoren sowie für junge Menschen - also den größten Teil der Bevölkerung - im Vergleich zu Delta gering ist.

Deshalb wird es kaum zu vermeiden sein, dass sich innerhalb weniger Wochen ein Großteil der deutschen Bevölkerung mit Omikron infiziert. Während die meisten Menschen dabei mit einer mehr oder minder schweren Erkältung davonkommen werden, sind zwei Gruppen besonders gefährdet: ungeimpfte Erwachsene und geimpfte Risikopersonen, die noch keinen Booster bekommen haben. Wenn der Omikron-Tsunami über das Land rollt, werden diese Menschen einem höheren Infektionsdruck ausgesetzt sein als je zuvor in der Pandemie. Es droht deshalb eine massive Überlastung der Krankenhäuser, insbesondere durch die Altersgruppe ab 60 Jahren, in der drei Millionen ungeimpft sind und knapp die Hälfte der Geimpften noch keinen Booster erhalten hat.

Zwei Wochen Impfferien und Ü60 priorisieren

Für die Bekämpfung der bevorstehenden, wahrscheinlich letzten kritischen Phase der Pandemie, wird eine neue Strategie benötigt. Die bisherige Taktik, die Ansteckungsrate durch Kontaktreduktion und Drittimpfung aller Altersgruppen niedrig zu halten und dadurch das Gesundheitssystem zu entlasten, kann gegen Omikron nicht mehr funktionieren. Da sich der größte Teil der Bevölkerung in kurzer Zeit unvermeidlich infizieren wird, gibt es nur noch ein einigermaßen erfolgversprechendes Rezept: möglichst viele ungeimpfte Erwachsene durch Erstimpfungen und Menschen mit besonderem Risiko durch Drittimpfungen vor schweren Verläufen schützen. Dafür ist es insbesondere erforderlich, statt der wahllosen Boosteraktionen für jedermann Menschen in höherem Alter gezielt anzusprechen und konsequent zu priorisieren. In der Altersgruppe ab 60 ist die Auffrischung, entgegen der Empfehlung der STIKO, bereits vier Monate nach der zweiten Impfung sinnvoll. Dass sich derzeit massenweise junge und gesunde Menschen boostern lassen, während Hochaltrige teilweise erst im neuen Jahr einen Termin bekommen haben oder abgewiesen wurden, weil die Sechsmonatsfrist seit der zweiten Dosis noch nicht verstrichen war, ist unverantwortlich.

Die hier vorgeschlagene, priorisierte Impfkampagne ist möglicherweise unser letztes Gefecht gegen die Pandemie, es kommt auf jeden Tag an. Um dafür zusätzliche Zeit und Ressourcen zu gewinnen, sollten wir nach Weihnachten unsere Kontakte noch einmal für zwei Wochen so gut es geht herunterfahren. Als konkrete Maßnahme kommt zum Beispiel die bundesweite Schließung von Kinos, Theatern, Clubs und anderen größeren Veranstaltungen in Innenräumen in Betracht. Für alle anderen Freizeitveranstaltungen muss eine allgemeine Testpflicht gelten - die Beibehaltung der Sonderrechte für Geimpfte und Genesene (2G-Regel), die bereits in der Delta-Welle erheblich zum Anstieg der Inzidenz beigetragen haben, wäre in der Omikron-Welle unverantwortlich. In Betrieben müssen, wo kein Homeoffice möglich ist, sich auch geimpfte Mitarbeiter regelmäßig testen lassen. Private Veranstaltungen sollten auf eine Höchstzahl von Teilnehmern begrenzt werden. Zusammenkünfte im Freien sind unbedenklich, sofern der Mindestabstand eingehalten werden kann.

Die Organisation einer priorisierten, groß angelegten Impfkampagne ist eine Mammutaufgabe für den Staat und seine Politiker. Zugleich muss die Versorgung der Bevölkerung mit Schnelltests sichergestellt werden und die Krankenhäuser müssen sich auf den - unwahrscheinlichen - Worst Case vorbereiten. Ebenso wichtig wird es sein, die Bürger von der Notwendigkeit der Kontaktbeschränkungen zu überzeugen und ihnen das strategische Ziel der Maßnahmen zu erklären. Es geht diesmal nicht darum, die Infektionswelle zu brechen oder unter eine bestimmte Inzidenz zu kommen - das wäre bei Omikron sinnlos. Deshalb besteht auch nicht die Gefahr, dass die Einschränkungen über die geplanten zwei Wochen hinaus verlängert werden.

Schließlich wären die 14-tägigen "Impfferien" auch ein deutliches Signal an alle bislang ungeimpften Erwachsenen: Dies ist der letzte Weckruf, die letzte Chance, sich für die nahezu unvermeidbare Corona-Infektion zu wappnen. Im schlimmsten Fall könnte erstmals eine Situation eintreten, in der nicht mehr genügend Intensivbetten für alle Covid-Patienten zur Verfügung stehen. Wer bis dahin die Glocke nicht gehört hat, liefert sich ausgerechnet in diesem Moment dem Virus aus.

Quelle: ntv.de

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