
Tim Steiner in Basel: "Ich bin das Werk, Wim ist der Künstler."
(Foto: picture alliance/KEYSTONE)
Der Plot von "Schattenkinder" ist nichts für Zartbesaitete: Es geht um menschliche "Kunstobjekte", verlorene Seelen und jede Menge Geld. Und trotzdem ist der Film nur eine Light-Version des realen Kunstbetriebs: Der ist stellenweise noch eine ganze Spur härter.
Eine von der Decke hängende Leiche, eng in Plastikfolie eingepackt wie ein Dönerspieß: So beginnt der neue "Tatort" aus Zürich. Auch ausgewickelt gibt der Tote mit seinem kahlgeschorenen Kopf und dem - inklusive der Hornhaut der Augen - zutätowiertem Gesicht kein besonders beruhigendes Bild ab. Die Ermittlungen führen Grandjean (Anna Pieri Zuercher) und Ott (Carol Schuler) auf die Spur von Kyomi (Sarah Hostettler), einer ebenso angesagten wie provokanten Künstlerin aus der Zürcher Szene.
Der Verstorbene war offenbar nicht nur einer von Kyomis Mitbewohnern, sondern ihr auch regelrecht hörig - genau wie Kyomis andere Jünger, die von der Konzeptkünstlerin nur als "Objekte" bezeichnet werden und ihre Körper und Seelen bereitwillig ihrer charismatischen Meisterin hingeben. "Schattenkinder" konfrontiert die Zuschauer mit einem Kunstbetrieb, der in seiner Drastik auf den ersten Blick ziemlich unglaublich (oder unglaubwürdig) wirkt. Tatsächlich kann sich der Film aber aus einer ganzen Reihe realer Vorbilder bedienen - und bleibt hinter deren Extremen teilweise noch weit zurück.
Tätowierte Schweine und ein skalpierter Schweizer
Wim Delvoye heißt einer von denen, die es besonders weit treiben: Der Belgier züchtete schon 2004 auf einer eigens gegründeten "Art Farm" Schweine, um sie anschließend zu tätowieren und später auszustopfen und auszustellen. Nur wenige Jahre später ging der Konzeptkünstler noch einen gewaltigen Schritt weiter, als er den Schweizer Tim Steiner in über 40 schmerzhaften Arbeitsstunden den kompletten Rücken tätowierte und ihn damit zu seiner "lebenden Leinwand" machte.
Seitdem tourt Schweizer als Ausstellungsobjekt durch die Museen dieser Welt: Bis zu fünf Stunden sitzt er dann mit dem Gesicht zur Wand auf einem Sockel. "Es ist nicht immer leicht: Nach vierzig Minuten auf dem Sockel tut alles weh", sagte Steiner vor einigen Jahren dem Schweizer "Kunstbulletin". "Tage, an denen ich nicht die richtige Einstellung finde, sind die Hölle: Panikattacken, Ängste, eine Tour de Force. Die Leute sehen nicht, wie ich leide."
Trotzdem hält der mittlerweile 50-Jährige an Delvoye fest und lässt im Interview keinen Zweifel daran, wie es um die Beziehung der beiden und seinen eigenen Selbstwert bestellt ist: "Ich bin nur das Werk, Wim ist der Künstler. Ich mache auch keine Performance, denn ich bin kein Künstler. Ich sitze da nur und mache nichts. Darin werde ich übrigens immer besser. Meine Haut trägt das Werk, ich bin ganz unwichtig. Ich gehe nicht mit meinem Rücken irgendwo hin, mein Rücken nimmt mich mit."
"Missbrauch eines Hörigen", nennen das Delvoyes Kritiker. Die Parallelen zum aktuellen "Tatort" sind unübersehbar, und noch ein Faktor spielt eine große gemeinsame Rolle: das Geld. Während in "Schattenkinder" die Künstlerin und ihr zwielichtiger Galerist auf einen sechsstelligen Frankenbetrag lauern, der für die Asche von Kyomis "Objekten" ausgeschüttet wird, sieht die Sache im echten Leben sogar noch makabrer aus: Schon vor Jahren hat Delvoye einem Hamburger Galeristen Tim Steiners Rücken verkauft, für 205.000 Dollar. Nach seinem Tod darf der ihn dann häuten und gerben - und sich das "Kunstwerk" anschließend an die Wand hängen.
Quelle: ntv.de