Paris rettet Olympische Spiele Nur die Seine war wirklich zum Kotzen

Au revoir, Paris!

Au revoir, Paris!

(Foto: picture alliance / Hans Lucas | Amaury Cornu)

Die Olympischen Spiele in Paris gehen zu Ende - und werden in Erinnerung bleiben. Nicht nur den schwimmenden Sportlern in der Seine. Die französische Hauptstadt sendet beeindruckende Bilder in die Welt. Heftige Debatten gibt es auch, aber sie sind wichtig.

Womöglich werden sie zum Abschluss der Olympischen Spiele von Paris davon sprechen, dass es die besten aller Zeiten waren. In der Vergangenheit war diese Bewertung oft bemüht und damit entwertet worden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass irgendjemand, vielleicht der ewig euphorische IOC-Präsident Thomas Bach, den Lorbeer-Evergreen zum Dank und Abschied auspacken wird. Der war schon am Freitag in seiner Verliebtheit für Paris kaum noch einzufangen gewesen. "Die Olympischen Spiele 2024 sind eine Liebesgeschichte", schwärmte der 70-Jährige. Mehr noch: "Alle sind in sie verliebt: die Athleten, das französische Volk, die Fans auf der ganzen Welt."

In diesem Jahr könnte der Satz von den besten Spielen aller Zeiten der Wahrheit näher kommen, als bei vielen vergangenen Austragungen. Was nicht nur an dem Schatten der Corona-Pandemie lag. Die Olympischen Spiele, dieses gigantischste Sportfest der Welt, hatten zuletzt reichlich Kratzer bekommen. Zu viel Gigantismus. Zu viel Putin und China. Zu viel Hinterzimmerpolitik. Zu wenig Nachhaltigkeit. Durfte man sich noch auf Olympische Spiele freuen, sich gar darum bemühen, sie ins eigene Land zu holen? Diese Fragen wurden gestellt.

Spektakuläre Arena, gigantische Stimmung

Paris hat die Antwort gegeben. Sie lautet: oui! Die leidigen Debatten um Menschenrechte und Protzbauten, die niemand mehr braucht, gab es nicht. Die Sehenswürdigkeiten der Stadt wurden genutzt und zum Teil dieser Spiele gemacht, das gab große Bilder. Die vorhandenen Arenen waren meistens prall gefüllt. Die euphorisierten Fans sorgten für große, einmalige, allseits gelobte Atmosphären. Sie sangen den Klassiker "Aux Champs-Elysées". Und immer wieder auch die so schön klingende Hymne "Marseillaise". So stellte etwa die Beachvolleyball-Anlage unterm Eiffelturm die fantastische Arena an der Copacabana 2016 in Rio in den Schatten. Vor der traumhaften Kulisse des Schlosses in Versailles ritten die Pferdesportler um Medaillen. Michael Jung holte in der Vielseitigkeit das dritte Gold. ARD-Mann Carsten Sostmeier überdrehte vor Glück das Rhetorik-Roulette. An Sacre-Coeur rasten die Radstars vorbei. Im Grand Palais wurden gefochten, vor dem Invalidendom die Bogen gespannt.

Und was war in der Arena Süd 4 los, wo neue Tischtennis-Helden geboren und große Legenden verabschiedet wurden. Felix Lebrun ist der vielleicht unwirklichste Held der Spiele, Annett Kaufmann die größte Entdeckung und Timo Boll der Mann, dem sie alle zu Füßen lagen. Die Platten-Duelle wurden von Dezibel-Zahlen eines Formel-1-Rennens begleitet. Ähnlich ging es beim Schwimmen im umgebauten Rugby-Stadion zu. Leon Marchand, das französische Schwimmbiest, brachte sogar Präsident Emmanuel Macron dazu, die Krawatte abzulegen. Wo gibt es das schon? Nahezu alle Sportlerinnen und Sportler bekamen große Aufmerksamkeit und viel Liebe: Auch die oft verspotteten Geher. Und die Surfer, die sich knapp 16.000 Kilometer entfernt in der gefährlichsten Welle der Welt duellierten und ikonische Bilder schufen. Gabriel Medina im Stillstand etwa, oder der die Sportwelt grüßende Wal.

Die Spiele beginnen mit einer riesigen Provokation

Nein, natürlich war auch bei diesen Olympischen Spielen nicht alles perfekt. Und das ist auch gut so. Die Spiele leben nicht nur von Glanz und Gloria, sondern auch von Dramen. Was vielleicht nicht hätte sein müssen, waren die Dramen, die sich nach dem Schwimmen in der Seine abspielten. Mehrere Sportlerinnen und Sportler wurden krank. Leonie Beck etwa übergab sich neunmal und kämpfte mit Durchfall. Die belgische Triathletin Claire Michel erwischte es auch hart. Nicht alles konnte mit der Wasserqualität in Verbindung gebracht werden. Ein Dauerthema blieb der Fluss dennoch. Der mit dem Start, ach was, schon weit im Voraus im Mittelpunkt stand. Der Einlauf der Nationen war dieses Mal anders als sonst. Sie flanierten nicht ins Stadion, sondern grüßten von Booten auf der Seine. So richtig wollte diese interessante Idee der umstrittenen Eröffnungsfeier nicht aufgehen.

Mit reichlich Glamour hatte die französische Hauptstadt die Sportlerinnen und Sportler begrüßt und der nicht-freien Welt den Mittelfinger entgegengestreckt. Die heftig polarisierende Show mit diversen Provokationen rief nicht nur den ewig wütenden Donald Trump und das weitgehend suspendierte Russland auf den Plan, sondern auch den empörten Vatikan. Bei der Feier war nach Ansicht vieler Kritiker Leonardo da Vincis Gemälde "Abendmahl" nachgestellt worden - unter anderem von Dragqueens.

Die Pariser Verantwortlichen und auch Kunsthistoriker widersprechen: Inspiration für die Show sei nicht das "Letzte Abendmahl" von da Vinci gewesen, sondern ein Gemälde namens "Fest der Götter", das ein gut besuchtes Gelage auf dem Olymp zeigt. Die Spiele hatten dennoch ihren ersten großen Aufreger, aber auch eine Debatte darüber, wie man leben kann und will. Die Olympischen Spiele sind aber auch ein Schmelztiegel, kein antiseptisches Fest des Friedens. Sie werden im Kontext des Weltgeschehens gefeiert, nicht losgelöst davon. Ein marokkanischer Judoka verweigerte einem Israeli den obligatorischen Handschlag. Ein afghanisches B-Girl sendete bei ihrem Wettkampf eine Botschaft für Frauenrechte in ihrer Heimat, wo die mittelalterlichen Taliban mit gnadenloser Härte herrschen. Dafür wurde sie disqualifiziert.

Überlagert wurde die Debatte um die Eröffnungsfeier schnell von der Geschlechterdiskussion um die Boxerin Imane Khelif. Die hatte in ihrem ersten Kampf eine Gegnerin derart hart geschlagen, dass diese geschockt aufgab. Der Fall wurde groß und größer, weil die Algerierin ebenso wie Lin Yu-ting aus Taiwan vom umstrittenen Box-Verband IBA, der vom IOC suspendiert worden ist, nach nicht näher spezifizierten Geschlechtertests von Kämpfen ausgeschlossen wurden. Der Fall wurde zu einem bizarren Kulturkampf, der tagelang tobte und auch nach den Goldmedaillen für beide Boxerinnen nachhallen wird. Auch, weil das IOC wie schon in der Vergangenheit bei der Frage der Kategorisierung in das binäre System von Mann und Frau in Erklärungsnot geriet. Hier ist dringend eine Lösung nötig - egal, wie schwer sie zu erreichen scheint. Ebenso in der Doping-Frage. Der Fall China lastete auf den Schwimmwettbewerben. Das IOC und die Welt-Anti-Doping-Agentur verbitten sich die permanente Einmischung, vor allem von den US-Behörden. Die WADA ignorierte dabei regelmäßig belastendes Material gegen die Chinesen, unter anderem von der ARD-Dopingredaktion.

Fall "Steven van der Velde" ist schwer auszuhalten

Schwer zu ertragen war auch der Fall "Steven van der Velde". Der niederländische Beachvolleyballer kam als verurteilter Kindesvergewaltiger zu den Spielen. Er hatte seine Strafe abgesessen und wurde trotzdem von den Fans verachtet. Sie brandmarkten ihn als das, was im Wort Kindesvergewaltiger steckt und pfiffen ihn aus. Aber so einfach ist der Fall eben nicht (wie Sie hier nochmal nachlesen können). Und so tobte auch hier eine Debatte, über den Umgang mit dem 30-Jährigen. Hat er eine Chance auf Rehabilitation oder bezahlt er ewig für den "größten Fehler seines Lebens"? Vor den Spielen war die Vergangenheit kein Thema, auf der großen Bühne rückte sie ins Licht. Für den Sportler und seine Familie, er hat ein kleines Kind, bleibt eine schwere Hypothek.

In der Sandgrube unter dem Eiffelturm ging eine große Karriere zu Ende. Beachvolleyball-Ikone Laura Ludwig merkte nach ihrem Vorrunden-Debakel, dass die Zeit zum Abschied gekommen ist. Und mit ihr gehen viele große Sportlerinnen und Sportler. Boll kehrt nicht mehr auf die große Bühne zurück. Auch Angelique Kerber macht Schluss. Ebenso der von ewigen Verletzungen gezeichnete Tennis-Riese Andy Murray. Und niemand weiß, was aus Rafael Nadal wird, der im Einzel von Novak Djovkovic auf würdevolle Weise gedemütigt worden war. Auch Nikola Karabatic, der erfolgreichste Handballer der Geschichte ist am Ende seiner großen sportlichen Reise angekommen, dramatisch geschlagen von der deutschen Mannschaft.

Die Heldengeschichten sind jene, die die Menschen faszinieren. Und nirgends werden sie in einer Dichte geschrieben, wie bei Olympischen Spielen. Die deutschen Handballer um den phänomenalen Renars Uscins sorgten mehrfach für Herzrasen. Yemisi Ogunleye verzauberte das Stade de France mit Kugelstoß-Gold. Darja Varfolomeev rührte die Herzen mit ihrer Gymnastik-Supershow zu Gold. Die 3x3-Basketballerinnen trieben das rasante Spektakel auf die Spitze. Die deutschen Sprinterinnen weinten vor Glück, Horst Hrubesch geht mit dem denkbar spannendsten Happy End in den Ruhestand. Lukas Märtens flog im Becken zu Gold und gab danach den sympathischen und verliebten "Magdeburg"-Botschafter.

Die großen Geschichten sind gar nicht alle aufzuzählen. Es sind schlicht zu viele. Kerbers heiße Tennis-Tänze gehören dazu, Mihambos silberner Kampf gegen die Corona-Folgen. Aber es sind ja nicht die deutschen Geschichten, die die Menschen hierzulande mitreißen. Da ist etwa Simone Biles zwischen Sensation und Drama. Da ist der extrovertierte Sprinter Noah Lyles, der viermal Gold gewinnen will, mit einer Corona-Infektion rennt und die Spiele danach abbrechen muss. Oder der phänomenale Rückkehrer Teddy Riner, der Judo-Geschichte schrieb und Frankreich für ein paar Momente stillstehen ließ. Das Dach im Stade de France flog weg, als die wilde Rugby-Sieben um Antoine Dupont die Fidschis entthronte. Die Ringerin Vinesh, die im verzweifelten Kampf um 100 Gramm im Krankenhaus landete. Oder der hochfliegende "Mondo" Duplantis und die rasant fliegende Femke Bol. Und da sind noch die Hockey-Herren, die sich am Ende eines dramatischen Finals dieses feinen Sports fast prügelten. Bei den Frauen überraschte Bundestrainer Valentin Altenburg mit seiner Knallhart-Ansage: "Anne, halt jetzt die Fresse."

Die Sicherheit ist kaum ein Thema

Was bei diesen Spielen zum großen Glück kaum zum Thema wurde, war die Sicherheit. Im Vorfeld war die Angst groß gewesen, dass es zu einem terroristischen Anschlag kommen könnte. Paris hatte massiv aufgerüstet, Polizei und Armee in Alarmbereitschaft versetzt. Aber bis auf vereinzelte Vorfälle mit vergessenen Gegenständen, die sich als harmlos erwiesen, gab es nichts, was für bange Momente sorgte.

Frankreich hat ein großes Statement für die Spiele gesetzt. Für den Wert, den dieses Fest hat. Das in gefährlichen weltpolitischen Zeiten für Liebe, Versöhnung und Verständigung steht. Dafür, dass selbst müde gewordene und wankende Demokratien in der Lage sind, große, freie Feste zu organisieren.

Diese Spiele haben Spaß gemacht und die großen Emotionen geweckt. Zum Abschluss etwa die französische Niederlage im Basketball gegen das US-Team mit dem wahnsinnigen Stephen Curry, nach der das Wunderkind Victor Wembanyama hemmungslos weinte. All das gehört dazu, all das ist olympische Tradition. Ebenso wie das Gemurre über Zustände und Essen im Dorf der Athleten.

Ob es die besten Spiele aller Zeiten waren? Egal. Sie haben Großes geschafft. Sie haben die Kratzer an diesem Fest mit schönen Bildern und großen Momenten übermalt und die Lust auf erst Mailand und dann Los Angeles geweckt. Das Erbe dieser Spiele ist groß.

Quelle: ntv.de

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