Enteignungen für den Klimaschutz Experten skizzieren "Schreckgespenst"
18.02.2015, 16:21 Uhr
Europa müsste knapp 90 Prozent der derzeit lukrativ förderbaren Kohle im Boden belassen, wenn die Klimaschutzziele erreicht werden sollen.
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Wer ein Grundstück mit Kohlemine erbt, gräbt den Energieträger aus - sofern das lukrativ ist. Doch was, wenn die Kohle im Boden bleiben sollte, der Umwelt zuliebe? Um den Klimawandel zu bremsen, müssen ganze Staaten auf ihre Ressourcen verzichten - sagen Forscher.
Falls der Mensch alle derzeit bekannten Lagerstätten von Kohle, Öl und Gas nutzen sollte, entstünden nach derzeitigen Schätzungen etwa 11.000 Milliarden Tonnen Kohlendioxid, also 11.000 Gigatonnen. Wenn die Erderwärmung in noch erträglichen Grenzen von 2 Grad gehalten werden soll, dürfen nach Auskunft des Weltklimarates IPCC jedoch nur noch rund 1100 Gigatonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre gelangen. Etwa 90 Prozent der derzeit bekannten fossilen Brennstoffe – und alle, die noch entdeckt werden – müssten demnach in der Erde bleiben. Sollte die Staatengemeinschaft das durchzusetzen versuchen?
Das wäre eine historisch beispiellose Entwertung von fossilen Ressourcen, und damit faktisch eine Enteignung von deren Besitzern, meint Hans Joachim Schellnhuber, der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, mit Blick auf die Ölscheichs und auf Länder mit Kohleflözen. "Das wäre so, wie wenn sie eine Goldmine haben, aber nur noch ein Zehntel davon ausgraben dürfen." Und tatsächlich haben einige Ölstaaten auf Klimakonferenzen Entschädigungszahlungen gefordert, falls sie ihre Ressourcen aus Klimaschutzgründen im Boden lassen sollen. Ärmere Staaten möchten Geld, damit sie es sich leisten können, ihren Urwald zu bewahren.
Wie von der Eiszeit zur Warmzeit – nur schneller

Die Westantarktis erwärmt sich ungewöhnlich rasch. Die Entwicklung ist nicht mehr aufzuhalten.
(Foto: picture alliance / dpa / Nasa/ E.j.steig)
Wenn der Mensch aber Ölfelder, Urwälder und andere Ressourcen weiter wie bisher ausbeutet, wird die Durchschnittstemperatur auf der Erdoberfläche nach IPCC-Schätzungen bis 2100 um 3,7 bis 4,8 Grad steigen – im Vergleich zum Beginn der Industrialisierung. "Die Differenz entspricht ungefähr der zwischen einer Eiszeit und einer Warmzeit. Nur, dass sich das damals über viele Tausend Jahre vollzog", erläutert Schellnhuber. "Viele Ökosysteme würden das (den schnellen Temperaturwechsel) nicht verkraften können."
In einem Teil des Westantarktischen Eisschildes habe der Schmelzvorgang wahrscheinlich schon jetzt den sogenannten Kipppunkt überschritten. "Der ist wohl nicht mehr aufzuhalten", sagt der Klimaforscher. Das entspreche in etwa 1,5 Meter Meeresspiegelanstieg, auch wenn dieser erst innerhalb der kommenden Jahrtausende erreicht werde. "Das Klimasystem reagiert sehr, sehr langsam – aber einmal in Gang gekommen, sind das dann zum Teil unumkehrbare Veränderungen. Das Hinterhältige ist, dass die Entscheidungen über das Klima der Zukunft eben heute getroffen werden", so Schellnhuber. Entscheidend seien die nächsten 10 bis 20 Jahre.
Christophe McGlade und Paul Ekins vom University College London schlagen im Journal "Nature" vor, was von den fossilen Energien in der Erde bleiben sollte, um die Klimaerwärmung mit einer Chance von 50 Prozent auf 2 Grad zu begrenzen. Zudem haben sie berechnet, wo welche Ressourcen besonders günstig ausgebeutet werden können. Sie präsentieren damit so etwas wie eine globale Optimallösung. In Europa sollten demnach 89 Prozent der derzeit lukrativ förderbaren Kohle im Boden bleiben, in den USA 95 Prozent, in China und Indien zusammen 77 Prozent. Im Nahen Osten müssten 38 Prozent des Öls ungenutzt bleiben, in Kanada 75 Prozent. Erdgas dürfte etwa in den USA noch im großen Umfang gefördert werden: Dort sollten nur 6 Prozent der Gaslagerstätten im Boden bleiben. Die fossilen Vorräte in der Arktis sollten dagegen gar nicht angetastet werden.
Energiemarkt könnte Kopf stehen
In der Industrie rechne kaum jemand damit, Ressourcen im Boden lassen zu müssen, sagt Schellnhuber. Viele Unternehmer nähmen die Diskussionen um das Klima nicht ernst. "Sie denken, das ist halt so eine Debatte, die von verrückten Umweltschützern und weltfremden Wissenschaftlern geführt wird." Dabei könnte der Energiemarkt bald vollkommen auf den Kopf gestellt werden.
Der Begriff Enteignung sei natürlich das größte Schreckgespenst von allen Möglichkeiten, das Klima zu schützen, meint der Klimaexperte. Er rechne nicht mit einer großräumigen Enteignung per Dekret, sondern mit einer "industriellen Transformation". Deren Zutaten seien vor allem technischer Fortschritt und öffentlicher Druck, aber wahrscheinlich auch Steuern oder zum Beispiel Einspeisetarife für Ökostrom. In der Industriegeschichte seien solche De-facto-Enteignungen durch Innovation ständig passiert. "Die Steinzeit endete nicht, weil die Steine knapp wurden", sagt der Klimaforscher. Wenn die erneuerbaren Energien kostengünstig, stabil und leicht erreichbar seien, "dann gibt es eigentlich keinen Grund mehr, Kohle aus der Erde zu kratzen."
"Einige Entwicklungsländer fragen sich natürlich, warum sie ihre vorhandenen Reserven ungenutzt lassen sollten, wenn dies doch ihr vorrangiges Ziel – die Bekämpfung der Armut – erschwert", sagte vor kurzem Michael Jakob vom Mercator-Klimaforschungsinstitut mit Blick auf fossile Energieträger und Wälder. "Eine erfolgreiche Klimapolitik ist letztlich eine Frage der Entschädigung", meint auch er. Nur ein globales Klimaübereinkommen, das Verluste erstatte und von allen Teilnehmern als gerecht empfunden werde, könne auf lange Sicht die Nutzung fossiler Energieträger streng begrenzen.
Quelle: ntv.de, Sabine Humml, dpa