Menschen beim Essen zuschauen "Gegentrend zur Beschleunigung des Lebensalltags"
22.12.2023, 18:47 Uhr Artikel anhören
Der Youtuber Nikocado Avocado kämpft sich in seinen Videos regelmäßig durch Unmengen an Fastfood.
(Foto: picture alliance/AP Photo)
Unter dem Titel "ASMR Mok-Bang" werden Food-Videos im Internet zum Erfolgsschlager. Scheinbar mühelos verschlingen Menschen riesige Berge an Burgern, Nudeln oder Torten - und schmatzen dabei lautstark ins Mikrofon. Was sich hinter dem merkwürdigen Trend verbirgt, erklärt Claus-Christian Carbon, Psychologe und Professor an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, im Interview mit ntv.de.
ntv.de: Anderen beim Essen zuzusehen, klingt ziemlich unspektakulär. Doch auf Youtube generieren Videos unter dem Titel "ASMR Mok-Bang" millionenfache Klicks. Was fesselt Zuschauer daran?
Professor Carbon: Mok-Bang oder auch Muk-Bang - dieser aus Südkorea stammende Trend ist mittlerweile schon eine richtige Bewegung. Faszinierend bei den Videos ist, dass das, was normalerweise im Hintergrund läuft, plötzlich zum Fokus wird. Damit verändern wir das Wahrnehmen und können plötzlich Details sehen, die wir sonst einfach herausfiltern würden. Diese neue Wahrnehmungsbedingung kennen wir auch aus Kunst und Kultur und auch da sind wir oft wie gebannt.
ASMR steht für "Autonomous Sensory Meridian Response". Welche positiven Effekte verbergen sich hinter diesem Phänomen?
Prof. Dr. Carbon leitet seit 2022 den Lehrstuhl für Allgemeine Psychologie und Methodenlehre an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg.
Der Begriff wurde von der Community selbst vergeben und ist damit zunächst kein einheitliches, wissenschaftlich tief erforschtes Phänomen. Entsprechend heterogen verhält es sich auch mit den Inhalten in diesem großen ASMR-Container. Fast all diesen Videos gemein sind aber die folgenden Eigenschaften: eine starke Ästhetisierung, das heißt, die Videos werden ästhetisch stark inszeniert. Damit haben sie auch eine eigentümliche Atmosphäre, die recht unnatürlich wirkt. Unterstützt wird dieses Artifizielle durch eine eigentümliche Sprech- und Aufnahmetechnik der Stimme. Meist wird diese ungewöhnlich nahe, fast schon intim nahe, am Mikrofon positioniert. Typische Zisch-, Flüster- oder Säuselgeräusche werden dabei nicht herausgefiltert, sondern im Gegenteil verstärkt, prononciert oder explizit ausgelöst.
Was unterscheidet die Videos darüber hinaus von anderen?
Sie enthalten kaum Handlung und liefern auch keine Informationen. Noch dazu sind sie sehr lang, manchmal über zwei Stunden. All das konterkariert Videos, die man üblicherweise auf Youtube konsumiert, wie Anleitungen, Erklärvideos oder Informationssendungen. Kurz gesagt: ein echter Gegentrend zu schnellen, dichten und informationsreichen Videos! Und damit auch ein Gegentrend zur andauernden Beschleunigung des Lebensalltags.
Bislang gibt es verhältnismäßig wenige Studien zu dem Thema ASMR. Was hat die Wissenschaft bereits herausgefunden?
Soweit ich weiß, sind wir im deutschsprachigen Raum an meinem Lehrstuhl an der Universität Bamberg die einzige Forschungseinheit, die sich systematisch mit ASMR beschäftigt. Wir interessieren uns vorrangig für die Phänomenologie von ASMR, also wie ASMR auf uns wirkt. Und hier haben wir Spannendes herausgefunden: Zum einen unterscheiden wir nicht zwischen ASMR-lern und Nicht-ASMR-lern. Wir werden vielmehr zu ASMR-lern, wenn wir uns nur einmal wirklich intensiv damit beschäftigt haben. Zum anderen wirkt ASMR erst nach einiger Zeit der Betrachtung und vor allem dadurch, dass man mit teilweise ungewohnten und aversiven Reizen zurechtkommen muss. Hat man sich an diese Reize aber erst einmal durch sogenannte Habituation gewöhnt, dann kommt man langsam zu einem Entspannungszustand, der erst wieder durch eine neue Sequenz im Video aufgebrochen wird. Danach fällt man aber immer weiter in die Entspannung, die dann oft nach mehr als einer Stunde zum Einschlafen führt.
Also steckt in uns allen ein ASMR-ler?
Anfangs unterschieden sich die Versuchspersonen sehr: Die einen liebten es, die anderen lehnten es kategorisch ab. Wenn die letztere Gruppe aber einfach "dranblieb" und weiter schaute, begann sie ebenfalls, von ASMR zu profitieren: Auch bei ihnen setzte dann eine beruhigende und entspannende Wirkung ein.
Gibt es auch eine voyeuristische Komponente?
Jede Art von Video kann eine voyeuristische Komponente bedienen, da es ein asymmetrisches Medium ist. Gerade beim Essen würden wir uns typischerweise im Alltag niemals so stark auf das Essverhalten unseres Gegenübers konzentrieren, das wäre sozial unverträglich. Bei ASMR-Videos können wir das hingegen ausleben und meist bekommen wir dabei richtig Lust, auch selbst zu essen und zu genießen.
Käse, Schokolade, Burger: Bei dem südkoreanischen Food-Trend werden oft vor allem ungesunde Lebensmittel in gigantischen Mengen vertilgt. Was löst das aus?
Es sind vor allem große Mengen, aber nicht immer nur ungesunde Dinge, die hier konsumiert werden. Alleine das ist schon einigermaßen charakteristisch und schafft freilich auch spannende Ausgangssituationen, denn hier wird vollkommen gevöllt. Gleichzeitig erscheinen die Protagonisten meist schlank und rank. Das bietet einen hedonischen Reiz.
Verbergen sich hinter dem Essenstrend gesundheitliche Gefahren?
Das aufmerksame Essen und Zuschauen beim Essen ist zunächst nicht als gefährlich anzusehen. Zudem sind die Videos eher so angelegt, dass zwar sehr viel gegessen, aber nicht unbedingt geschlungen wird. Das unterscheidet den Trend vom typischen Binge-Eating-Verhalten. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass bestimmte Personengruppen dadurch motiviert werden, unverhältnismäßig viel zu essen. Tatsächlich ist dies aber nicht der Anspruch der Videos, in denen es doch eher um Achtsam- und Sinnlichkeit geht.
Was fasziniert Sie persönlich an dem Thema ASMR?
Ich gehe mit der Forscherbrille an das Thema heran. Dabei geht es mir vor allem darum, zu verstehen, was Millionen von Menschen aktiv aufsuchen, obwohl es sich auf den ersten Blick wie ein Ding der Unmöglichkeit zeigt. Es ist wichtig, psychologische Phänomene und Trends in aller Tiefe zu verstehen und es nicht dem Halbwissen zu überlassen.
Erinnern Sie sich an das absurdeste ASMR-Video, das Sie je gesehen haben?
Während meiner Forschung werde ich mit vielen absurden Inhalten konfrontiert: Eine Stunde lang einen Döner zu essen, ist sicherlich extrem, auch wenn man bedenkt, dass er vermutlich ziemlich kalt wird, dieser Döner. Oder zu beobachten, wie jemand Unmengen von Scampi in sich hineinschaufelt. Heute betrachte ich das Ganze vor allem durch die analytische Brille und interessiere mich mehr für die Beweggründe, aus denen sich Menschen für diese Inhalte so begeistern können.
Mit Prof. Dr. Claus-Christian Carbon sprach Leah Nowak
Quelle: ntv.de