Frage & Antwort

Verfluchtes Halbwissen Redet wirklich jeder Mensch Bullshit?

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Ein Haufen Bullshit oder Kuhmist.

(Foto: imago images/Manfred Ruckszio)

Wer "Bullshit!" sagt, beklagt sich wie selbstverständlich über den geistigen Bockmist anderer. Doch wäre in der komplizierten Welt von heute nicht mehr Selbstkritik geboten? Schließlich läuft jeder irgendwann Gefahr, Bullshit zu fabrizieren. Auch Forscher beschäftigen sich mit dem Problem.

So ein Scheiß!", "totaler Müll!", "Was für eine Kacke!": Die Liste von Vorwürfen gegen das, was andere tun und sagen, ist lang und dreckig. Ein englischsprachiger Kraftausdruck, der auch dazu zählt, ist "Bullshit" - der Bullshit, wie die Redaktion des Duden erklärt. Sie hat den populären Fluch zum ersten Mal im Jahr 2004 in ihr Wörterbuch aufgenommen und beschreibt ihn seitdem als "Unsinn, etwas Dummes, Ärgerliches, Abzulehnendes".

Wer verstehen möchte, was Bullshit genau bedeutet und wie er sich von anderem sprachlichen Mist oder von der Verarschung unterscheidet, erfährt im Duden nicht genug. Tatsächlich ist das Wesen des Begriffs dermaßen komplex, dass er längst von Wissenschaftlern unterschiedlicher Fakultäten untersucht wird. Philosophen, Soziologen, Ökonomen oder Betriebswirte wollen zum Beispiel wissen, ob Bullshit gleichbedeutend mit der Lüge ist, was Menschen motiviert, Bullshit von sich zu geben, und welche Funktion das Wort Bullshit in der Gesellschaft (erlangt) hat.

Rückenwind bekommt das Interesse in einer Zeit, in der viel über die Wahrheit gestritten wird, öffentliche Debatten über "Fake News", "Lügenpresse" oder "postfaktische Politik" geführt werden - und man mit Blick nach Washington oder London sogar den Eindruck bekommen kann, dass der Bullshit regiert.

Erste Forschungen bereits 1986

Der erste Forscher, der mit dem Interesse an Bullshit weltweit in Erscheinung trat, war der US-amerikanische Philosoph Harry Frankfurt. Während seiner Professur an der Universität Yale begann er 1986, über Bullshit als gesellschaftliches Phänomen zu schreiben und zu sprechen - nicht ahnend, dass daraus im Jahr 2005 ein Weltbestseller werden würde. Seine einleitenden Worte im Buch "On Bullshit" wurden zum Credo der Bullshit-Forschung: "Ein äußerst bemerkenswertes Merkmal unserer Kultur besteht darin, dass es so viel Bullshit gibt. Jeder weiß es. Jeder trägt seinen Teil dazu bei. Aber wir nehmen es hin. Die meisten Menschen vertrauen darauf, dass sie den Bullshit erkennen und sich davon nicht in die Irre leiten lassen."

Jörg Meibauer, ein deutscher Professor für Linguistik, der früher an der Universität Mainz gelehrt und Harry Frankfurts Thema aufgegriffen hat, beschreibt Bullshit grundsätzlich als "eine Art unaufrichtiges Behaupten". Menschen, die Bullshit produzieren, verfolgten die Absicht, ihre Adressaten im Unklaren darüber zu lassen, ob sie die Wahrheit sagen (geschweige denn, ob sie die Wahrheit kennen) oder nicht.

Ein Beispiel, das gerne zur Veranschaulichung angeführt wird, ist der Student, der in einer Prüfung irgendetwas sagt oder schreibt, um nicht nichts zu sagen oder zu schreiben. Er hat die Hoffnung, dass irgendwelche Worte besser bewertet werden als Schweigen oder ein leeres Blatt.

Wichtige Eigenschaften von Bullshit

Das Beispiel verdeutlicht zunächst, dass Bullshit ein allgegenwärtiges Problem ist. Schließlich macht der Student nichts anders als andere Menschen außerhalb von Unterrichtsräumen, wenn sie nach dem Weg, um einem Rat oder um ihre Meinung gefragt werden. Sie antworten irgendetwas, um zu verbergen, dass ihnen das notwendige Wissen fehlt. Bullshit kann also dazu dienen, Prüfungssituationen aller Art zu meistern. Das geschieht typischerweise in der Form, die Meibauer als "zu selbstsicher" beschreibt: wenn der Auftritt des Bullshitters nicht im Einklang mit seinem Kenntnisstand ist. Denkbar sind Situationen auf der Bühne oder am Rednerpult, während eines Interviews, eines persönlichen Gesprächs oder in einer wichtigen Verhandlung.

Menschen, die vor anderen Rede und Antwort stehen müssen, kommen schneller in heikle Situationen: Politiker, Verkäufer, Vorgesetzte, Experten, Eltern - sie alle kennen das Problem, das der Philosoph Holm Tetens 2006 in seinem Aufsatz "Die Unvermeidbarkeit von Bullshit" erörtert hat: "Das Allermeiste von dem, was jeder von uns von sich gibt, hat er irgendwie von anderen aufgeschnappt. Lediglich bei einem verschwindend kleinen Bruchteil unserer Überzeugungen hat man sich selber ernsthaft vergewissert, dass sie gut begründet und wahr sind. Alle anderen Äußerungen sind nachgeplapperte und von anderen ausgeliehene Sätze. Der Unterschied zwischen wahr und falsch ist für den Nachplapperer faktisch irrelevant, weil unzugänglich."

Das Beispiel des Studenten zeigt auch: Er lügt nicht. Bullshit zu fabrizieren, um Wissen vorzutäuschen, ist offenkundig etwas anderes, als absichtlich die Unwahrheit von sich zu geben. Das führt noch einmal zum Unterschied zwischen wahr und falsch: Während er dem Lügner bewusst ist - der Mensch könnte gar nicht lügen, ohne zu wissen, was die (nicht artikulierte) Wahrheit ist -, spielt sie für den Studenten überhaupt keine Rolle. Hier kommt das "lose Verhältnis zur Wahrheit" ins Spiel, das dem Bullshit innewohne, wie Professor Meibauer betont. Weil der Student die Wahrheit schlicht nicht kennt, denkt er sie sich aus! Erst wenn ihm direkte Fragen gestellt würden wie "Kennst du die Antwort (nicht)?" oder "Bluffst du?", käme er in die Verlegenheit, sich für oder gegen die Lüge entscheiden zu müssen.

Das Beispiel des Studenten dient darüber hinaus dazu, zwei grundsätzliche Kategorien von Bullshit zu veranschaulichen, die Harry Frankfurt erörtert hat:

- "Ausweichender Bullshit" ist eine unaufrichtige Behauptung, mit der sich Bullshitter in irgendeiner Weise verteidigen oder absichern wollen. So will der Student vermeiden, durchzufallen. Diesem Zweck und dieser Absicht ordnet er seinen Anspruch auf Wahrhaftigkeit unter.

- "Überredender Bullshit" ist eine unaufrichtige Behauptung, die dem Bullshitter dienen soll, andere zu überzeugen. Der Student will nicht nur vermeiden durchzufallen, sondern im besten Fall eine gute Note bekommen.

Wie gut "überredender Bullshit" zu unserem Wirtschaftssystem passt, hat Professor Birger Priddat von der Universität Witten/Herdecke im Aufsatz "Poesie der Ökonomie" erklärt. Da die Überredung einen Schlüssel bildet, um Kunden und Mitarbeiter zu gewinnen, spricht Priddat von einer "Ökonomie der Überredung" ("economy of persuasion"). In ihr gebe es mehr "Schwindel als Verstand". Ökonomische Modelle und der "Homo oeconomicus", der dem Modell nach stets rational entscheiden soll, seien deshalb - Bullshit! Der Prozess der Preisbildung stehe dabei im Mittelpunkt, da sich Preise nach den Möglichkeiten richteten, Abnehmer zu überreden. Bei Mondpreisen von mehr als 200 Euro für ein Paar Jeans, das in der Herstellung nur wenige Euro kostet, während das Marketing - die professionalisierte Überredung - ein Vielfaches verschlingt, leuchtet diese Argumentation tatsächlich ein.

McCarthy: "Bullshit ist typische Kommunikationsform"

Professor Ian McCarthy, der an der Simon-Fraser-Universität in Vancouver Management lehrt, geht in einem Gespräch mit ntv.de so weit, Bullshit als typische Kommunikation in der heutigen Gesellschaften zu beschreiben. "In Unternehmen gibt es haufenweise Bullshit und er fängt immer mit der Sprache an", sagt McCarthy. Es gehe permanent um eine Dramatisierung der Realität. Fantasievolle Sprachbilder sollen Spannung erzeugen, wo keine ist, und Lust machen, wo vielleicht sonst keine wäre. Gemeint ist die Lust, als Mitarbeiter mitzuarbeiten und die Lust, als Käufer zu kaufen.

Man denke zum Beispiel an "Boot Camps" für Mitarbeiter oder an "Black Fridays" für Kunden. Beides sind Übertreibungen - auf der einen Seite ohne Stiefel und ohne die harten Leibesübungen, die Soldaten oder Häftlinge in Trainings- und Erziehungslagern über sich ergehen lassen müssen. Auf der anderen Seite ein Tag, der nicht schwarz ist, sondern absichtlich hektisch gestaltet wird, um den Konsum anzukurbeln.

Verantwortung auf beiden Seiten

Wenn McCarthy recht hat und Bullshit tatsächlich zu einer alltäglichen Form der Kommunikation geworden ist, dann liegt die Vermeidung von Bullshit nicht nur in der Verantwortung der Sender, sondern auch der Empfänger. Letztere benötigen freilich genügend Zeit, Lust und Kenntnis, um den Bullshit zu entlarven. Je mehr sie mit Angeboten und Themen bombardiert werden, desto mehr müssen sie nachdenken, aussortieren und verstehen. Bleibt der Bullshit unbemerkt, findet er umso leichter Verbreitung - und macht die Empfänger automatisch zu Sendern.

Wie viel Bockmist jeder einzelne Mensch im Leben fabriziert und von sich gibt, lässt sich freilich nicht pauschal beantworten. Doch eins steht fest: Jeder macht es, weil es in einer Welt, die von Tag zu Tag komplizierter wird, nicht an Gelegenheiten mangelt.

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So bleibt den Menschen nichts anderes übrig, als dem eigenen Bullshit mit Humor und Selbstironie zu begegnen. Harry Frankfurt hat es vorgemacht. Die Widmung im Buch "On Bullshit" lautet: "To Joan, truly" - übersetzt: "für Joan, ungelogen". Wer immer sich hinter Joan verbirgt, kann sich sicher sein, dass das Buch auch nur ein durchschnittlicher, Bullshit-anfälliger Mensch verfasst hat.

Im Unterschied zu anderen scheinen Frankfurt und seine Anhänger allerdings selbstkritischer zu sein. Sie haben verstanden, dass sich in dieser Zivilisation eines niemals ganz vermeiden lässt: Effekthascherei mit Halbwissen, Fachgeschwurbel, Gefälligkeitsfloskeln, Allgemeinplätzen, Wichtigtuerei - gerne mit modischen englischen Begriffen wie dem Wort "Bullshit" selbst.

Quelle: ntv.de

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