Auch in Zeiten von Corona Wozu braucht der Mensch Rituale?
20.02.2021, 12:00 Uhr
Rituale wie das Familienfrühstück sind auch in Zeiten der Pandemie wichtig.
(Foto: imago/Westend61)
Das Coronavirus schränkt in vielen Bereichen ein. Vieles, was vor der Pandemie zum Leben gehörte, kann man nun nicht mehr machen. Dazu zählen auch Rituale, wie der Familienausflug. Doch warum sind Rituale eigentlich so wichtig für Menschen?
Wir leben derzeit in einer Welt, wie wir sie vorher nicht kannten: Kontakte werden eingeschränkt, Kinos, Theater oder Museen sind dicht, Ausgangsbeschränkungen oder sogar -sperren sind ein Teil unseres Lebens. Vieles, was vor der Pandemie für uns normal war, fällt im Moment weg oder ist stark eingeschränkt. Dazu zählen auch Rituale wie die Geburtstagsfeier, das Sonntagsfrühstück mit der Familie oder das Ostereiersuchen. Das wirft die Frage auf: Wozu brauchen wir diese Rituale überhaupt?
Rituale haben viele Vorteile für den Menschen, sagt Dieter Frey, Sozial- und Wirtschafts-Psychologe und Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, gegenüber ntv.de: "Rituale helfen dabei, Menschen zusammenzubringen und geben ihnen das Gefühl, dass sie nicht einsam und allein sind, sondern Teil einer Gemeinschaft. Sie spenden ein Gefühl von Heimat." Darüber hinaus müssen Rituale prinzipiell öffentlich sein. Konkret heißt das: Jeder andere kann das Ritual auch ausüben.
"Rituale erleichtern unser Leben. Viele Situationen aus dem Alltag müssen nicht immer wieder neu erfunden werden", meint Axel Michaels, Senior Professor für Indologie und Religionswissenschaft an der Universität Heidelberg gegenüber ntv.de. Michaels hat das Forschungsprogramm "Ritualdynamik" geleitet und Rituale sowie deren Veränderung und Dynamik untersucht.
Routinen sind keine Rituale
Eine einheitliche Definition des Ritualbegriffs gibt es allerdings nicht. Die Vorstellungen von einem Ritual, wozu etwa auch der morgendliche Spaziergang mit dem Hund oder das Zähneputzen zählen können, seien sehr verschieden. Michaels bezeichnet solche Handlungen, die mitunter jeden Tag ausgeführt werden, als "Alltagsrituale". Diese werden jedoch häufig alleine ausgeführt.
Was aber konkret ein Ritual ist, sieht Michaels strenger. Nach Ansicht des Experten besitzen Rituale einen anderen Stellenwert, indem sie komplexer sind. Rituale seien etwas Außergewöhnliches, Außeralltägliches und Besonderes. Diese Eigenschaften hätten auch Folgen für die Art und Weise, wie ein Ritual durchgeführt wird: "Man kleidet sich zum Beispiel anders als üblich oder speist festlich. Durch solche Formen, das Ritual zu zelebrieren, wird es aus dem Alltag herausgehoben", so Michaels.
Damit unterscheidet sich das Ritual auch von reinen Gewohnheiten oder Routinen. "Bei einer Routine steht das Erreichen eines Ziels im Vordergrund und die Handlungen können dementsprechend dem Ziel angepasst werden, bei einem Ritual steht die Handlung selbst im Vordergrund", erklärt Michaels. Die Handlung ist bei jedem Ritual konkret definiert und stets genauso wiederholt.
Rituale sind also gesellschaftliche und soziale Konventionen, auf die sich die Menschen geeinigt haben. Aber: Sie können auch einen gewissen Zwang ausüben, warnt Michaels. "Wer die soziale Gemeinschaft nicht verlassen möchte, ist gezwungen, diese Konventionen zu teilen, auch wenn man anderer Meinung ist", so der Experte. Beispielhaft nennt Michaels das Ritual, sich gegenseitig zum Weihnachtsfest zu beschenken: "Auch wer sich vornimmt, anderen an Weihnachten keine Geschenke zu machen, macht es häufig trotzdem. Dieses Ritual ist eben sehr stark."
Rituale können auch in schwierigen Zeiten helfen
Momentan befindet sich die Welt in einem Ausnahmezustand. Kein anderes Ereignis beschäftigt die Menschen derzeit so sehr wie die Coronavirus-Pandemie. Eine Studie der Universität Basel kam zu dem Schluss, dass zehn Prozent der Menschen durch Stress, Pessimismus und Depression belastet sind. Eine andere Studie aus dem vergangenen Jahr zeigt auch, dass Rituale dabei helfen können, Angstzuständen entgegenzuwirken und Stress zu reduzieren.
Keine Veränderungen im Alltag können sich laut Axel Michaels auch auf neue Situationen, etwa wie das Homeoffice, positiv auswirken: "Man kann versuchen, den Arbeitstag bewusst zu beginnen und zum Beispiel eine Glocke läuten oder eine Kerze anzünden. Vielleicht hilft es auch, den Kleidungsstil trotz Homeoffice der Arbeit anzupassen. Dann bleibt die Jogginghose im Schrank", gibt Michaels zu bedenken.
Aber der Experte macht deutlich: "Das sind noch keine Rituale, sondern eher schwach ritualisierte Verhaltensweisen, um den Alltag netter zu gestalten. Sie sind noch nicht in einen gesellschaftlichen Konsens überführt worden", so Michaels. Diese können aber schon zu einem besseren Wohlbefinden führen. Sollte aber etwa das Homeoffice länger ein Teil unseres Alltags sein, könnten auch in diesem Kontext Rituale entstehen. "Ich denke da an virtuelle Rituale, die den physischen Zusammenhalt ersetzen und zum Beispiel ein Videomeeting neu zu strukturieren. Aber darauf müssen sich die Menschen einlassen", erläutert Michaels.
Rituale bleiben trotz Pandemie
Das bedeutet, dass Menschen auch während einer Pandemie wie dieser, bei der vor allem auf soziale Distanz zur Eindämmung gesetzt wird, auf Rituale nicht komplett verzichten müssen. "Rituale können auch in der Pandemiezeit in den Alltag eingebaut werden. Geburtstage zum Beispiel kann man auch digital feiern. Da sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt", ergänzt Dieter Frey. Denn auch solche Rituale schaffen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit sowie Identität und können auch dabei helfen, Krisen wie die aktuelle zu bewältigen.
Während der Pandemie sind einige Rituale in ihrer üblichen Form zwar nicht möglich, aber sie bleiben erhalten, prognostiziert Axel Michaels: "Ich glaube nicht, dass die Pandemie etwas grundsätzlich an Ritualen ändert. Nach der Pandemie laufen sie so ab wie vorher. Aktuell befinden wir uns bloß in einem Wartezustand."
Übrigens: Alltagsrituale lassen sich laut Michaels einfach verwirklichen. Besteht etwa der Vorsatz, mehr Sport treiben zu wollen, könnte man in dem Zusammenhang ein Belohnungssystem einführen. "Nach jeder Trainingseinheit kann man zum Beispiel zwei Euro in eine Spardose geben", so Michaels. "Mit der Selbstdisziplin, Sport zu treiben, kann man sich dann auch schnell einen größeren Wunsch erfüllen." Denkbar ist auch, sich feste Strukturen zu schaffen: "Wenn man immer zur gleichen Zeit und in gleicher Form joggt oder eine bestimmte Kleidung trägt, kann auch der Sport stärker ritualisiert werden", so der Experte.
Quelle: ntv.de