Ey, Doitscha, lies! Bücher für die Schlechtwetterzeit
22.11.2015, 08:01 Uhr
Wenn die Sonne scheint, kann man auch mal draußen lesen.
(Foto: dpa)
Zum Spazierengehen ist das Wetter zu schlecht draußen? Ein Glück! Bleibt mehr Zeit zum Lesen. Wir haben Bücher für Krimi- und Horrorfans, Familienfeinde und -freunde - und den Nachwuchs kriegen wir auch noch beschäftigt.
Bolle ist verschwunden
Die kleine Julia wohnt in einem Dorf im Rheinland, hat Sommerferien und besucht zum ersten Mal allein ihre Großmutter in Berlin. Das allein ist schon aufregend genug - aber gleich bei ihrer Ankunft am Hauptbahnhof wird es noch aufregender: Omas Hund Bolle ist plötzlich verschwunden! Es folgt eine turbulente mehrtägige Suche, zusammen mit dem zehnjährigen Nachbarsjungen Ben. Eine echte "Berliner Jöre", mit Spreewasser getauft, wie er stolz herausstreicht.
Und so lernt Julia - und mit ihr auch der Leser - gleich reichlich Berliner Dialekt kennen (auch wenn der nicht immer hundertprozentig hinhaut), erfährt, dass Brötchen in Berlin Schrippen heißen, Berliner hier Pfannkuchen genannt werden und dass der Hauptstädter offenbar sprachfaul ist, denn was abgekürzt werden kann, wird abgekürzt: Potse für Potsdamer Platz, Helmi für Helmholtzplatz, Görli für Görlitzer Park …
Zudem ist die Suche wie ein kleiner Stadtrundgang durch Berlins Stadtmitte – die drei kommen vorbei am Regierungsviertel, am Reichstag, am Großen Stern mit der Siegessäule ("Goldelse"), auf der Museumsinsel, am Alexanderplatz und dem Fernsehturm und am Brandenburger Tor, um nur einige Orte herauszupicken. Sogar auf dem "Türkenmarkt" in Kreuzberg spielt der Berliner Kinderkrimi und U-Bahn fährt die Truppe auch. Und ein Schönheitswettbewerb für Hunde spielt eine nicht unwesentliche Rolle. Eine turbulente und unterhaltsame Tour durch Berlin, gedacht für Kinder zwischen sechs und zehn Jahren. (abe)
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Wer ist der Mann im grünen Mantel?
Wer Freude an einem fesselnden Plot und sprachlich hervorragenden Kapriolen hat, dem bleibt nur eine Wahl: "Fremde Treue" von William McIlvanney lesen. Zwischen 1977 und 1991 verfasste der Schotte seine Trilogie um den dickköpfigen Detectiv Inspector Jack Laidlaw. 2013 feierten die Krimis in Großbritannien ihr großes Comeback, seit dem letzten Jahr bringt der Antje-Kunstmann-Verlag eine Neuübersetzung heraus. Nun liegt mit "Fremde Treue" der letzte der drei Bände vor.
Dieses Mal erschüttert Laidlaw ein Tod in der eigenen Familie: Sein Bruder Scott läuft vor ein Auto und stirbt. Unfall, Selbstmord oder Mord? In den Wochen vor seinem Tod hatte sich Scott stark verändert, mal wirkte er traurig, mal mischte er wütend eine Party auf. Um zu rekonstruieren, was geschehen ist, macht sich Laidlaw auf in die schottische Provinz und landet tief in der Vergangenheit. Eine Frage treibt ihn besonders um: Wer ist der Mann im grünen Mantel? Dann tauchen in Glasgow zwei Leichen auf und ein Kleinkrimineller kommt ins Spiel.
Präzise zeichnet McIlvanney die sozialen Verwerfungen innerhalb der Gesellschaft nach und zeigt dabei, dass die Abgründe hinter der dörflichen Fassade mindestens genauso tief sind wie die der Glasgower Unterwelt. Das macht "Fremde Treue" zu weit mehr als nur einem spannenden Krimi. (kse)
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Leerstelle Vater
Er trägt einen cognacfarbenen Tweedanzug und dazu passende Schnürschuhe aus braunem Leder. So stellt sich Gustava ihren Vater vor. Kennengelernt aber hat sie ihn nie und Mutter Mimi schweigt beharrlich. Gustava fühlt sich "spurlos, ohne verschwunden zu sein" und zieht nach dem Tod der Mutter von Wien nach Berlin, um einen Neuanfang zu wagen. Aber die Leerstelle in ihrem Leben verfolgt sie in ihre neue Heimat.
In "Wintersonnen" lässt Ivana Jeissing ihre Protagonistin nach der Vergangenheit suchen und an der Zukunft zweifeln. Dafür schickt sie neben Gustava Kirsch - Schauspielerin und mit 34 Jahren laut ihrer Agentin "in einem schwierigen Alter" - eine ganze Armada illustrer Personen ins Rennen: Da ist Mimi, die Gustava immer eine Fremde bleibt und am Ende ihres Lebens in einem Zimmer lebt, in dem nur für sie sichtbar Schnee fällt und Könige wohnen. In Berlin trifft Gustava auf Donald Gliese, seines Zeichens Kinderpsychiater, sonniges Gemüt, Sohn einer schwerhörigen und daher schreienden Mutter und Gerne-viel-Esser. Besonders wichtig für Gustava wird Nello, der als Gärtner auf dem Grundstück der Glieses wohnt, Labyrinthe baut und ein wenig aus der Zeit gefallen zu sein scheint.
Gemeinsam mit diesem Personal erforscht Jeissing einige wesentliche Lebensfragen: Wie setzt sich die eigene Identität zusammen? Wie kann man seine Vorstellung von Glück beeinflussen? Und was macht ein "hätte, "könnte" und "was wäre, wenn …" mit den Menschen? Dabei balanciert sie gekonnt auf dem schmalen Grat zwischen Ernst und Heiterkeit. (kse)
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Ein neuer Fall für den "katholischen Bullen"

"Die verlorenen Schwestern" ist bei Suhrkamp erschienen, hat 378 Seiten und kostet 14,99 Euro.
(Foto: Suhrkamp)
Das nordirische "Maze" galt als eines der ausbruchsichersten Hochsicherheitsgefängnisse Europas. Als 38 IRA-Häftlingen im September 1983 dennoch die Flucht aus einem der berüchtigten H-Blocks gelingt, befinden sich das gesamte Vereinigte Königreich und Nordirland in höchster Alarmbereitschaft. Von den getürmten Terroristen, die in Libyen zu Bombenspezialisten ausgebildet wurden, fehlt jede Spur - allen voran das ranghohe IRA-Mitglied Dermot McCann.
Sean Duffy hat die Nase gestrichen voll von derlei Ereignissen, die keine Seltenheit in den "Troubles" sind. Ein Jahr nach seiner Degradierung zum einfachen Sergeant möchte der "katholische Bulle" Nordirland und dem dort tobenden Konflikt den Rücken kehren. Doch daraus wird nichts, weil plötzlich der MI5 vor seiner Haustür steht. Als McCanns ehemaliger Schulkamerad ist Duffy scheinbar der Einzige, der dem britischen Geheimdienst helfen und das Vereinigte Königreich vor einer Katastrophe bewahren kann. Während der scheinbar aussichtslosen Suche nach McCann wendet sich plötzlich dessen Ex-Schwiegermutter an Duffy. Sie kann und will ihm helfen, doch im Gegenzug muss er das Rätsel um den Tod ihrer Tochter lösen. Diese wurde vier Jahre zuvor in einem von innen verschlossenen Pub tot aufgefunden. Der "Mord ohne Mörder" ist nur ein Teil von Sean Duffys bisher kniffligstem Fall.
"Die verlorenen Schwestern" ist nach "Der katholische Bulle" und "Die Sirenen von Belfast" bereits der dritte Krimi der Sean-Duffy-Reihe. Erneut macht Autor Adrian McKinty eindrucksvoll deutlich, warum er neben Stuart Neville als bester Krimiautor Nordirlands gilt. Geschickt bettet er seine Handlungen in historische Ereignisse rund um den Nordirlandkonflikt ein, ohne dabei die Geschichte umzuschreiben. Zudem wagt er sich erfolgreich an das Mysterium des verschlossenen Raums, das seit Edgar Allen Poe als eines der höchsten Krimikünste gilt. Mit "Die verlorenen Schwestern" erzählt McKinty vor dem Hintergrund des Nordirlandkonflikts einen bis zum Schluss spannenden und temporeichen Hard-boiled-Krimi - in dem Sean Duffy beinahe einen Kuss von Margaret Thatcher bekommt. (cri)
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"Dämonen im Wald und Teufel vor der Haustür"

"Augen des Waldes" ist bei Suhrkamp erschienen, hat 433 Seiten und kostet 9,99 Euro.
(Foto: Suhrkamp)
Majestätisch thront "The Crofts", ein historisches Herrenhaus, vor den Toren des kleinen Ortes Swannhaven. Gemeinsam mit ihren beiden Kindern und dem Hund wollen die wohlhabenden New Yorker Ben und Caroline inmitten der malerischen Berglandschaft ein neues entspanntes Leben anfangen. Doch nicht nur Sohn Charlie merkt schnell, dass mit dem Ort etwas nicht stimmt. Im Wald vor dem Anwesen scheint jemand - oder etwas - die neuen Bewohner zu beobachten. Und dieses Wesen hinterlässt ihnen blutige und verstörende Botschaften. Als Ben beginnt, die jahrhundertealte Geschichte des Hauses zu erforschen, stößt er auf ein Geheimnis, das nichts Gutes verheißt.
Angstzustände, bizarre Dorfbewohner, verstörende Bilder - mit "Augen des Waldes" gelingt Autor Brendan Duffy ein beeindruckendes Romandebüt, das irgendwo zwischen Thriller und Horror einzuordnen ist. In der detailreich erzählten Geschichte, die streckenweise an Stephen Kings "Shining" erinnert, steigert sich kontinuierlich das Grauen. "Dämonen im Wald und Teufel vor der Haustür" - in einem atemberaubenden Finale erkennt nicht nur Protagonist Ben, was ihm seine Mutter mit diesem Ausspruch vermitteln wollte. (cri)
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Eine ganz normale Mischpoche
"Vergiss das Buch nicht, das Papa dir gekauft hat." Welches Buch? "Von dieser Adriana. Die war im Fernsehen." Da liegt es auf dem Regal neben der Ritter Sport, die ich doch eigentlich nicht mehr essen will. Mit Lesezeichen. Das Buch, nicht die Schokolade. "Ja, ich habe reingelesen, aber du kannst es mitnehmen. Ich brauche den Schluss nicht zu lesen, ich kenne das alles. Wir wissen doch, wie jüdische Familien sind und das mit dem Holocaust." Letzteres verstehe ich erst auf Nachfrage. Der Fernseher ist zu laut. Mein Vater und Guido Knopp sind wieder mit der 6. Armee Richtung Stalingrad unterwegs.
Ritter Sport Nougat passt gut zu "Doitscha", dem zweiten Buch der Schauspielerin und Autorin Adriana Altaras, die mit "Titos Brille" einen Bestseller gelandet hatte. Mama hat recht: Unsere Familie kennt das alles. Dieses deutsch-jüdische Dilemma, diese jiddischen Mammes, die alles (besser) wissen (s.o), diesen Kampf der Kulturen mit den neuen, deutschen Familienmitgliedern, der da täglich am Esstisch ausgetragen wird, während die Nazi-Schatten (s.o) fröhlich winken. Unglaublich witzig ist es trotzdem. Oder gerade deswegen, wer weiß. Und trösten Sie sich, Frau Altaras: Aus so manchem pubertierenden "Ey Doitscha"-Fantasie-Kibbuznik oder gar -Soldaten ist schon ein seriöser Unternehmensberater geworden. (sla)
Quelle: ntv.de