Bücher

"Columbusstraße" von Tobi Dahmen Schuld und Verdrängung - eine Familie im Zweiten Weltkrieg

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Der Terror gegen die Juden war offensichtlich: Tobi Dahmen nähert sich der Verdrängung in seiner Familie mit großer Aufrichtigkeit.

Der Terror gegen die Juden war offensichtlich: Tobi Dahmen nähert sich der Verdrängung in seiner Familie mit großer Aufrichtigkeit.

(Foto: Tobi Dahmen / Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2024)

1935 geht es Familie Dahmen gut. Sie hat sich eingerichtet im nationalsozialistischen System. Doch der Zweite Weltkrieg zieht auf, die Söhne müssen an die Front. Tobi Dahmen erzählt packend die Geschichte seiner Familie zwischen Düsseldorfer Bombennächten und Erlebnissen an der Ostfront.

Alte Kartons und Schachteln können so manche Geheimnisse bergen: Liebesbriefe, Fundsachen aus der Kindheit, längst vergessene CDs oder Bücher. Oder Briefe der Onkel - von der Ostfront des Zweiten Weltkriegs. So war es jedenfalls bei Tobi Dahmen. Für den Comiczeichner war der Fund ein Glücksfall und ein weiteres Puzzlestück für einen langgehegten Plan: ein Buch über seine Familiengeschichte. Nun ist "Columbusstraße" (Leseprobe) bei Carlsen erschienen.

Tobi Dahmen arbeitete jahrelang an der Graphic Novel.

Tobi Dahmen arbeitete jahrelang an der Graphic Novel.

(Foto: Privat)

Jene Straße liegt in Düsseldorf-Oberkassel. Dort steht das Geburtshaus von Dahmens Vater, in dem ein Teil der Geschichte spielt. Mit seinem Vater hat Dahmen einst auf einer Zugfahrt ein langes Gespräch geführt und ihn zu seiner Kindheit befragt. Aber erst als dieser starb, begann der Zeichner mit der jahrelangen Recherche: Er übertrug alte Briefe aus der Kurrentschrift, sichtete Familienfotos und führte weitere Gespräche im Familienkreis. Dann hat er mehr als drei Jahre lang gezeichnet. Herausgekommen ist ein 500-Seiten-Wälzer, der die Geschichte seiner Familie zwischen 1935 und 1945 erzählt, doch im Grunde viele andere Familien in Deutschland mit meint, die ähnliches erlebt haben.

In vielen deutschen Familien wurde nach dem Zweiten Weltkrieg über den Nationalsozialismus und seine Verbrechen geschwiegen. "Ein Grund war sicherlich die Scham, die diese Generation mit sich herumgetragen hat", sagt Dahmen im Gespräch mit ntv.de. Die Wirklichkeit sei so schrecklich gewesen, dass man sich irgendwann auf eine Erzählung geeinigt habe, auf ein fast romantisches Bild dieser Zeit.

ANZEIGE
Columbusstraße: Eine Familiengeschichte: 1935 – 1945 | Wahre Familiensaga während des Zweiten Weltkriegs
44
40,00 €
Zum Angebot bei amazon.de

Was ist wirklich passiert? Wie haben sich die Vorfahren tatsächlich im Nationalsozialismus verhalten? Dahmen war es wichtig, auch jene Geschichten zu hinterfragen, die er von klein auf gehört hat. "Mein Großvater wurde beispielsweise von sich selber und von der Familie immer als wackerer Anti-Nazi dargestellt", erzählt der Zeichner. In seinen Briefen habe er sich aber offen antisemitisch geäußert - er sei ein typischer Vertreter des katholischen Milieus dieser Zeit gewesen. "Das wollte ich nicht beschönigen und habe es in einen Dialog eingewoben."

Eingerichtet im Schreckenssystem

Mit diesem Großvater beginnt 1935 die Geschichte. Karl Dahmen, Veteran des Ersten Weltkriegs, wohnt in einem Haus in der Columbusstraße. Er hat eine Frau, drei Söhne und eine Tochter. Karl steht dem nationalsozialistischen Regime skeptisch gegenüber, wegen eines Denunzianten wird er sogar von der Gestapo vorgeladen. Doch er ist kein Widerständler. Vielmehr ist er als Anwalt zwangsläufig Teil des Justizsystems. Um weiter normal arbeiten zu können, beantragt er irgendwann die Mitgliedschaft in der NSDAP.

Der katholisch-großbürgerlichen Familie Dahmen geht es gut. Wie viele andere hat sie es sich eingerichtet in diesem Schreckenssystem. Doch der Zweite Weltkrieg zieht auf, und er erfasst auch die Dahmens mit voller Wucht: Im Mai 1940 fallen erstmals Bomben auf Düsseldorf. Die Söhne Peter und Eberhard werden einberufen. Der Jüngste, der 1932 geborene Karl-Leo, wird zu seiner Sicherheit aufs Land verschickt - er ist Tobi Dahmens Vater. Seine Mutter wächst derweil in Breslau auf. Deren Erlebnisse im Krieg werden in eingeschobenen Episoden erzählt.

Doch Dahmen wollte kein schiefes Bild entstehen lassen, indem er vor allem das Schicksal von Deutschen im Zweiten Weltkrieg darstellt. Deshalb war der Fund der Frontbriefe der beiden Onkel ein Glücksfall, deshalb nehmen deren Schilderungen und Erlebnisse an der Ostfront großen Raum ein. "Wenn ich die alliierten Bombenangriffe auf Düsseldorf zeige, muss ich auch all das Leid darstellen, das die deutschen Soldaten in Osteuropa angerichtet haben", sagt Dahmen.

Was nicht in den Briefen von der Front stand

Die Szenen, die in der damaligen Sowjetunion spielen, werden zum Herzstück des Comics. Nicht nur, weil sie durch die Briefe einen authentischen Hintergrund haben. Sondern vor allem, weil Dahmen hier die Stärke des Mediums Comic ausspielt. In der Feldpost, die Millionen Soldaten verschickten, stand nie die ganze Wahrheit. Es herrschte Zensur. Vielleicht wollten die Schreiber auch keine Sorgen in der Heimat auslösen. Doch was bedeutet es, wenn von den "Strapazen des Partisanenkampfes" die Rede ist? Was verbirgt sich hinter den "Unannehmlichkeiten" mit "Gefangenen (meistens harmlose Zivilisten)", von denen einer der Onkel berichtet?

Dahmen kombiniert den Wortlaut der Briefe mit Zeichnungen, die versuchen, sich der Realität zu nähern. Er will zeigen, was nicht in den Briefen steht, oder höchstens zwischen den Zeilen: den Schrecken des Krieges, Tod und Vernichtung. Diese Montage gelingt ihm immer wieder sehr gut, indem er die Briefe mit drastischen Kriegsszenen überblendet. Diese zeichnete er, als Russlands Invasion in der Ukraine begann - beide Kriege spielen teils an denselben Orten. Auf einer beeindruckenden Doppelseite stellt er etwa die Erschießung von Gefangenen dar. Die Stelle, an der die Schützen stehen, ist jedoch weiß. Dort klafft ein Loch in Form eines Puzzleteils. Drei passende Puzzlestücke sind daneben dargestellt. Doch welches ist das richtige? Wurden die Gefangenen erschossen, und von wem? Gehörte der eigene Onkel zu den Schützen?

Der Krieg bringt Leid auf allen Seiten.

Der Krieg bringt Leid auf allen Seiten.

(Foto: Tobi Dahmen / Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2024)

Es sind Bilder wie diese, die im Gedächtnis bleiben. Die zum Kern des Comics vordringen: Schuld und Verdrängung in deutschen Familien. Das gilt auch für einzelne Szenen, die in Deutschland spielen. Zwar behält Dahmen die eigene Familie im Fokus. Doch mit subtilen Anspielungen weitet er den Blick. Es sind oft Figuren am Rand der Bilder: der Gefangene der Gestapo, der offensichtlich gefoltert wurde. Die jüdischen Nachbarn der Mutter in Breslau, bei denen es irgendwann dunkel bleibt. Oder die Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter, die nach den Düsseldorfer Bombennächten die Trümmer wegräumen müssen.

Nach dem Krieg hieß es oft, man habe nichts gewusst. Das "deutsche Mantra der Nachkriegszeit" nennt es Dahmen. "Was man aber gewusst hat, war, wie die jüdischen Nachbarn behandelt wurden. Das hat man gesehen", sagt er. Die Menschen hätten auch mitbekommen, wer nach Luftangriffen die Ruinen aufgeräumt hat. "Mir ist wichtig, zu zeigen, dass das auch zum Alltag gehört hat."

Empathie für die Figuren

Neben diesen beeindruckenden Szenen erlaubt sich Dahmen aber auch Längen. "Columbusstraße" ist noch dicker geworden als sein schon umfangreicher Comic "Fahrradmod" über die eigene Jugend. Erzählerisch ist Dahmen zwar merklich gereift. Sein Strich ist pointierter, die Figuren dynamischer, die historischen Hintergründe überzeugen mit viel Liebe zum Detail. Doch er versucht auch, möglichst viele Aspekte unterzubringen, um die Atmosphäre der Zeit genau einzufangen. Mehr Prägnanz hätte dem Werk zu Beginn gutgetan. Auch die Parallelerzählung über beide Elternteile gelingt nicht immer. Die Geschichte über die Mutter ist anekdotenhafter, die Figuren dieses Teils erreichen nicht dieselbe Tiefe. Das ist schade, weil so ein Ungleichgewicht entsteht. Vielleicht wird dies in der geplanten Fortsetzung korrigiert, die vom Leben der Mutter und ihrer Familie in der Sowjetischen Besatzungszone handeln soll.

Mehr zum Thema

Was der Comic aber leisten kann: Er zeigt, wie die Radikalisierung einer Gesellschaft funktioniert. Wie die Familienmitglieder zu Mitläufern werden. Wie sich die Söhne in der Wehrmacht anpassen, moralische Bedenken beiseiteschieben müssen, zu Mittätern werden. Aber auch, wie Dahmens Vater Zeuge des Nazi-Terrors gegen die eigene Bevölkerung wird. Der Zeichner verliert darüber nie die Empathie für seine Figuren. Er versucht vielmehr, sich in deren jeweilige Lage hineinzuversetzen. Dazu gehört auch ihr Leid, als der Krieg nach Deutschland zurückkehrt. Dabei entstehen packende Szenen, deren Dramatik durch die Zeichnungen in Graustufen noch hervorgehoben wird.

"Anhand dieses Buches habe ich gelernt, wie wenig diejenigen, die das ausbaden mussten, die Möglichkeit hatten, dieses Unheil abzuwenden", sagt der Zeichner. Damit meint er nicht nur die Verfolgten, die am meisten unter dem Nationalsozialismus gelitten haben. Sondern auch Menschen wie seinen Onkel Eberhard. Der gehörte zum Jahrgang 1921, dem Jahrgang mit den meisten Opfern unter den Wehrmachtssoldaten. "Er ist mit 'Hurra' und einiger Neugierde in den Osten gefahren", sagt Dahmen. "Aber die Entscheidung, diesen Krieg zu führen, hat er nicht getroffen. Das geschah 1933, als er zwölf Jahre alt war." Darüber sollte man mal nachdenken, sagt Dahmen, auch unter Verweis auf die Wahlen in diesem Jahr. "Wie viele Entscheidungen treffen wir eigentlich für unsere Kinder? Was müssen die irgendwann mal ausbaden?"

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen