Person der Woche: Olaf Scholz "Deutschlandpakt-Regierung" ist mehr als ein Gerücht - platzt jetzt die Ampel?
24.10.2023, 08:44 Uhr Artikel anhören
Der Bundeskanzler und seine SPD können sich zunehmend für den "Deutschlandpakt" begeistern. Sie könnten mit Grünen und FDP brechen und mit der Union koalieren. Auch CDU und CSU können dem Szenario immer mehr abgewinnen. Eine Vorentscheidung könnte bereits in zwei Wochen fallen.
Vor vier Wochen war es nur ein verwegenes Hinterbänkler-Gerücht im Bundestag. Kneipenrunden von Hauptstadt-Journalisten machten abwiegelnde Witze. Vor zwei Wochen erreichte es die Strategiesitzungen in den Parteizentralen, und erste Medien berichteten im Gestus des Erstaunens. Seit einer Woche ist es - neben der neuen Wagenknecht-Partei - das zentrale Thema der Berliner Machtzirkel: die "Deutschlandpakt-Regierung" als Sofort-Alternative zur Ampel-Koalition. Seitdem der CSU-Chef und bayerische Ministerpräsident Markus Söder den Kanzler offen zum Koalitionswechsel und zur Bildung einer "Regierung der nationalen Vernunft" aufgerufen hat, wird in Berlin heftig sondiert. Was anfangs unwahrscheinlich klang, wird zusehends eine denkbare Option.

Scholz wäre mit dem Ampel-Bruch wieder Herr des Verfahrens - und könnte eine andere Migrationspolitik durchsetzen.
(Foto: picture alliance / Flashpic)
Die Tiefenrecherche im Bundestag ergibt folgendes, überraschendes Bild:
Erstens, Grüne und FDP sind irritiert bis verärgert über die Flüster-Sondierungen zwischen Sozial- und Christdemokraten. Sie nehmen den Flirt der "Deutschlandpaktisten" offiziell nicht ernst und mimen Gelassenheit. Im Hintergrund hört man aber durchaus die Sorge, dass die Ampel-Koalition von einer genervten Kanzler-SPD auch schnell beendet werden könnte, man die Regierungsmandate schlagartig verlöre und fortan als Streithansel-Sündenböcke und regierungsunfähig dastehen könnte. Die Lage der Ampel-Koalition wird beiderseitig und offen als "miserabel" bis "vergiftet" beschrieben.
Zweitens, die CSU fühlt sich nach der Landtagswahl in Bayern machtpolitisch wieder frei für bundespolitische Gestaltungen. Sowohl Markus Söder in München als auch Alexander Dobrindt in Berlin machen unmissverständlich klar, dass sie eine Deutschlandpakt-Regierung sofort eingehen würden. Dobrindt erklärte im n-tv-Interview, dass er Deutschland an einem historischen "Kipp-Punkt" wähne und die Republik „aus den Fugen“ gerate, wenn Berlin jetzt nicht in der Migrationskrise konsequent umsteuere. Dobrindt prophezeit, dass die AfD bei der Europawahl im kommenden Jahr stärkste Partei werden könne, falls die Migrationsprobleme nicht entschieden gelöst würden. Er sagt: "Wenn es dem Land dient, dann sind wir zu Kooperationen bereit." Er meint: Nur die Union, nicht aber die Grünen, könne der SPD bei der Migrationswende wirklich helfen. Was er nicht sagt: Die CSU hätte schlagartig die Chance, mit einer Deutschlandpakt-Regierung bundespolitisch wieder erheblichen Einfluss zu erringen.
Soll die starke Union den Junior spielen?
Drittens, die CDU ist reservierter als die CSU, aber viel offener für eine Deutschlandpakt-Aktion als gedacht. Auch in der CDU sieht man die Republik an einem Scheideweg, die Integrations- und industrielle Standortkrise als "Sprengbomben des inneren Zusammenhalts". In der CDU freut man sich zwar über die jüngsten Wahlsiege, die Höhenflüge in den Umfragen und die Herbststatur der Stärke von Friedrich Merz, wo es im Sommer noch einige Irritationen gab. Zugleich aber herrscht Sorge über die ostdeutschen Landtagswahlen 2024. Dort droht ein Erdrutschsieg der AfD. Eine Deutschlandpakt-Regierung hätte aus Sicht der CDU zwar den Nachteil, dass man sich in eine Juniorrolle zur SPD begebe, obwohl man in Umfragen derzeit doppelt so stark ist und ein Wahlsieg 2025 in greifbarer Nähe scheint.
Es habe aber den Vorteil, dass man die Migrationskrise und das AfD-Fanal selbst aktiv bekämpfen könne, dass man als staatstragend-regierungsfähig-konstruktiv wahrgenommen würde und die neue CDU-Führung sofort Regierungserfahrung sammeln könne. Friedrich Merz als Vizekanzler wäre in seiner Kanzlerkandidatur für 2025 ebenfalls eher gestärkt. Kurzum: Falls der Kanzler wirklich rufen sollte, die CDU würde sich wohl bewegen. Davon zeugt auch ein Brief, den Friedrich Merz zum Wochenende an den Kanzler geschickt hat, indem er zur Migrationskrise konkret vorschlägt, "dass wir eine kleine, paritätisch besetzte Verhandlungsgruppe aus Vertretern Ihrer Regierung und meiner Fraktion benennen, die die Gespräche zu diesem Thema aufnimmt".
Die SPD-Fraktion öffnet sich
Viertens, in der SPD herrscht ein gemischtes Meinungsklima zur Deutschlandpakt-Option. Ein Teil der Fraktion hält eine Rückkehr zur Großen Koalition grundsätzlich für falsch, fühlt sich selbst mit chaotischen Grünen und widerborstigen Liberalen besser als mit der Union. Dieser Teil hofft auf einen Ruck in der Ampel und eine sanfte Lösung der Migrationsfrage. Ein wachsender Teil der Fraktion aber ist durch die jüngsten Wahlergebnisse, die Umfragen und die Stimmung an der SPD-Basis regelrecht geschockt. Sie sorgen sich, dass die SPD mit der Ampel auf ein politisches Desaster zusteuere und "wir bei der Europawahl nur noch halb so groß werden wie die AfD". Viele Abgeordnete fürchten den Verlust ihrer Mandate bei der kommenden Wahl, falls man "einfach so weiter wurschtelt".
Einige sehen die Allianz mit den Grünen inzwischen als gefährlich an für die SPD. Eine Deutschlandpakt-Regierung könnte die SPD wieder als positive Gestaltungsmacht dastehen lassen, die Grünen abschütteln lassen und die Chancen für die Wahlen 2025 erhöhen. Die Pro-Deutschlandpakt-Vertreter waren vor wenigen Wochen absolute Raritäten, jetzt werden sie täglich mehr. Andererseits sind sie längst nicht in der Mehrheit, und die Fraktion würde eine Koalitionswechsel-Initiative von sich aus nicht ergreifen. Sollte aber der Kanzler den Weg zum Koalitionswechsel einschlagen, die eigene Fraktion würde ihm wohl folgen, vor allem wenn es mit Grünen und Liberalen weiter nur erbitterten Dauerstreit gäbe.
Bewegen sich die Grünen nicht, bewegt sich der Kanzler
Fünftens, im Kanzleramt ist man über die Deutschlandpakt-Debatte durchaus erfreut. Zum einen hat der Kanzler sie selbst mit der Deutschlandpakt-Initiative angestoßen und steht so als Handlungssouverän da. Zugleich eröffnet die zur Koalitionsfrage ausgewachsene Debatte ihm neue Optionen. Er kann mit dem Thema die unfolgsamen Koalitionspartner direkt disziplinieren nach dem Motto: Folgt ihr mir nicht in voller Breite, so wechsele ich die Seite. Scholz strebt - nach allem, was man aus der SPD hört - keinen Koalitionswechsel zur Union an. Er wolle vielmehr versuchen, Grüne und Liberale zu einer größeren Migrationswende zu bewegen. "Es passt auch nicht zum behutsamen Naturell des Kanzlers, einen plötzlichen Seitenwechsel vorzunehmen", sagt ein hochrangiger Beamter im Kanzleramt. Zudem schätze Scholz die Lage als weniger dramatisch ein als viele seiner Kollegen.
Andererseits wisse auch der Bundeskanzler, dass "etwas passieren muss". Falls die Ampel sich nicht bewege, könne eine Deutschlandpakt-Regierung seine Regierungszeit und sein Ansehen womöglich retten. Intern wird im Kanzleramt analysiert, dass es für diese Aktion ein "Zeitfenster bis Weihnachten" gebe. Im Kanzleramt visiert man offensichtlich den 6. November an, wenn der Kanzler sich mit den Ministerpräsidenten treffen und ein großes Migrationspaket schnüren will. Sollte es ihm gelingen, die Ampel und die Ministerpräsidenten zur Migrationswende bis zum 6. November zu bewegen, dann wird er wohl keine Deutschlandpakt-Regierung starten, nicht einmal Gespräche dazu. Sollte allerdings der Widerstand der Grünen dazu führen, dass es nur winzige Korrekturen in der Migrationspolitik gebe und die Regierung handlungsschwach bleibe, dann würde der Kanzler die Gespräche mit der CDU auch persönlich aufnehmen.
Fazit: Der im September noch völlig unwahrscheinliche Koalitionswechsel von der Ampel zu einer Deutschlandpakt-Regierung ist im Laufe des Oktobers zu einem realistischen Szenario geworden. Die Interessenlagen von SPD, CDU und CSU sind der neuen Koalitionsoption überraschend zugeneigt. Der Kanzler zögert noch und gibt seiner Ampel bis zum 6. November Frist.
Quelle: ntv.de