Verlorene Lebenszeit Die vielfachen Folgen des Dauerscrollens
19.10.2025, 10:00 Uhr Artikel anhören
Auch Kinder reden wegen der Smartphone-Nutzung weniger miteinander.
(Foto: IMAGO/Westend61)
Mal eben bei Tiktok oder Instagram hereingeschaut und hängengeblieben - schon wieder ist eine halbe Stunde Lebenszeit weg. Aber was hab ich da gerade eigentlich gesehen? Oft belangloses Zeug, von dem wenig hängenbleibt. Folgen hat das Dauerscrollen in sozialen Medien dennoch - für den Einzelnen, aber auch für Gesellschaften und die Zukunft dieser Welt.
Klingt dramatisch. Aber haben wir nicht schon immer über Neues gemeckert?
Oh ja, absolut. Womöglich haben schon nach der Erfindung erster Werkzeuge Menschen gemeckert, sowas könne ja nur ungute Folgen haben. "Warnungen vor Dingen, die neu sind, gibt es seit Menschengedenken", sagt der Entwicklungspsychologe Sven Lindberg. "Generell sorgt alles, was sich ändert, beim Menschen erst mal für Ängste und Sorgen." Einer Umfrage des Sozialforschungsinstituts Ipsos zufolge haben in Deutschland aktuell 82 Prozent der Menschen das Gefühl, dass sich die Welt zu schnell verändert.
Zur Erfindung der Eisenbahn im 19. Jahrhundert warnten Ärzte, derart hohe Fahrgeschwindigkeiten seien gesundheitsschädlich. Beim Telefon gab es die Befürchtung, es führe zu sozialer Vereinsamung. Es gebe ein "Muster der moralischen Panik", das Menschen üblicherweise bei neuen Technologien zeigten, sagt der Kognitionsforscher Christian Montag. Das heißt aber nicht, dass es nicht tatsächliche Gefahren gebe.
Was ist aktuell anders?
An vorderster Stelle die Durchdringung. "Das hat es zuvor noch nie gegeben, dass eine so maßgebliche gigantische Veränderung weltweit zeitgleich stattgefunden hat", sagt Lindberg, Leiter der Klinischen Entwicklungspsychologie an der Universität Paderborn. Der Großteil der Weltbevölkerung habe ein Smartphone. "Die Allgegenwärtigkeit der Geräte hat extrem zugenommen in den vergangenen Jahren."
Oft viele Dutzend Male täglich richtet sich der Blick aufs Handy - allein schon, weil die Geräte zig Funktionen haben: Filme werden geschaut, es wird gezockt, kommuniziert, fotografiert und geshoppt, Bankgeschäfte erledigt und Nachrichten gelesen. Lindberg hat mit Studenten einmal um die 80 Gerätschaften auf einem Tisch platziert, um zu veranschaulichen: "Das alles kann ein Smartphone."
Es sei deshalb Unsinn, das Smartphone an sich zu verteufeln, betonen Fachleute. Ihr Augenmerk richtet sich vor allem auf soziale Medien, deren Business-Modell es ist, Nutzer möglichst lange im System zu halten. Smartphone weglegen: unerwünscht. Dafür werde auf fortwährende Dopamin-Kicks gesetzt, die die Erwartung von immer Neuem belohnen, wie Lindberg erklärt. "Kurzvideos bieten das im Extrem." Die Gewöhnung an Reize im Sekundentakt sorge aber zum einen dafür, dass ein Buch oder eine Giraffe im Zoo weit weniger attraktiv wirke. Zudem nutze sich der Effekt nicht ab, stattdessen entstehe ein Nicht-aufhören-Können ähnlich wie am Spielautomaten: "Noch das Video, dann hör ich auf, noch ein einziges mehr - und so weiter."
"Die Nutzungszeit ist extrem - und all diese Lebenszeit steht uns nicht für andere Dinge zur Verfügung", sagt der Medienwissenschaftler Ralf Lankau. 168 Stunden hat eine Woche, etwa 50 bis 60 davon schlafen wir. Sagenhafte 72 Stunden pro Woche bewegen sich die Bundesbürger inzwischen im Netz, mit keinem anderen Gerät mehr als mit dem Smartphone, wie die kürzlich vorgestellte "Postbank Digitalstudie 2025" ergab. Bei den 18- bis 39-Jährigen sind es sogar fast 86 Stunden.
Sieben von zehn Befragten sind regelmäßig in sozialen Netzwerken aktiv. Wobei "aktiv" es bei vielen nicht so recht trifft: Algorithmen schlagen vor, was wir dort sehen, welcher Minifilm bei Tiktok auf den nächsten und den nächsten und den nächsten folgt. Vielfach sind wir nur stille Konsumenten.
Soziale Medien machen sich Uraltes zunutze: die evolutionär in unserer Biologie angelegte Eigenschaft, neuen Reizen Aufmerksamkeit zu schenken. Das hatte einst Sinn, um nicht von einem plötzlich auftauchenden Säbelzahntiger gemampft zu werden, wie Lankau erklärt. Und hilft unfassbar reichen Männern, die die Social-Media-Konzerne führen, heute dabei, noch reicher zu werden, indem es uns wischend und scrollend am Handy verharren lässt.
"Man müsste wohl jeden Tag eine Bibliothek lesen für die vielen Inhalte, die über soziale Medien auf viele einprasseln", sagt Lankau, Professor für Medientheorie an der Hochschule Offenburg. "Nur dass niemand so viel Nonsens am Stück lesen würde."
Warum machen sich Fachleute vor allem um Heranwachsende Sorgen?
"Wir sehen in Studien einen Zusammenhang zwischen jüngerem Alter und einer stärkeren suchtähnlichen Nutzung der sozialen Medien", erklärt Montag, der derzeit an der Universität von Macau lehrt. Möglicherweise sei das darauf zurückzuführen, dass der präfrontale Kortex dann noch nicht ausgereift ist. Es dauere üblicherweise bis ins junge Erwachsenenalter, bis Menschen gute Selbstregulationsfähigkeiten zeigten.
Vielfach würden psychische Probleme junger Menschen mit intensiver Social-Media-Nutzung in Verbindung gebracht, ergänzt Lindberg. Ursächlich nachzuweisen sei dieser Zusammenhang nur schwer - allein schon deshalb, weil es keine Vergleichsgruppe ohne Smartphone gibt.
Eine der deutlichsten bereits nachgewiesenen Folgen überbordender Handynutzung ist Lindberg zufolge Schlafmangel, der bei Kindern sowohl kurzfristige Folgen etwa für die Lernfähigkeit als auch langfristige für die Hirnreifung habe.
Einer kürzlich präsentierten Schweizer Studie zufolge schlafen Jugendliche besser und erreichen bessere Schulergebnisse, wenn Eltern ihnen abends die Smartphone-Nutzung verbieten und keine Handys über Nacht im Zimmer dulden. Im Durchschnitt schliefen die 13- bis 15-Jährigen 40 Minuten länger als Altersgenossen, deren Smartphonezeit nicht begrenzt wurde, berichten die Wissenschaftler in der Fachzeitschrift "Discover Public Health".
Im Zusammenhang mit dem Geschäftsmodell sozialer Medien, Nutzer möglichst lange im System zu halten, werde auch die sogenannte Displacement-Hypothese diskutiert, erklärt Montag. "Die Logik dahinter lautet, dass die verbrachte Zeit auf den sozialen Medien weg ist für andere wichtigere entwicklungspsychologische Aufgaben."
Hinzu kommen indirekte Folgen schon für die Jüngsten, wenn die Eltern Zeit in sozialen Medien statt mit ihnen verbringen, wie Lindberg sagt. Beim Stillen, auf dem Spielplatz: In etlichen Situationen schauen Eltern aufs Handy - Zeit, die für Kommunikation fehlt. "Studien zeigen ganz klar, dass soziale Interaktion extrem wichtig für die Entwicklung ist."
Lindberg spricht von einem "weltweiten Sozialexperiment unvergleichlichen Ausmaßes" ohne Vorabprüfung und Kontrollen. Ein Experiment, das sich womöglich auf die künftige Zahl an Patenten und nobelpreiswürdigen Ideen, auf den Erfindergeist in allen möglichen Lebenslagen und auf die Kunst auswirkt.
Wieso das?
Zugrunde liegt unter anderem ein durch soziale Medien aussterbendes Gefühl: die Langeweile. Sie mag nerven, macht aber kreativ, wie viele Eltern wissen: Wenn der Knirps über schreckliche Langeweile klagt, hat er Minuten später oft grandiose Spielideen.
Studien zeigen Montag zufolge, dass Gedankenwandern eine Voraussetzung für Kreativität ist. "Wenn ich in jeder freien Minute von meinem Smartphone absorbiert werde, ist es schwer, in einen reflexiven Modus zu kommen."
Kreativität werde immer dann besonders gefördert, wenn der vorgegebene Input möglichst gering sei, sagt auch Lankau. "Ein Holzklötzchen kann alles sein, was ich mir vorstelle." Ein Computerspiel lasse dafür schon viel weniger Raum, weil alle Handlungsoptionen vorprogrammiert sind, wenn auch mit Varianten. Aber zumindest agiere der Nutzer noch selbst. "Soziale Medien nutzen die meisten als reine Konsumenten, allenfalls für Likes und Emojis."
Ist das mit dem Begriff "Brain rot" gemeint?
"Brain rot", 2024 von Oxford University Press zum Wort des Jahres gewählt, bezeichnet den Zustand geistiger Abstumpfung nach dem Dauerkonsum trivialer Online-Inhalte. Montag hält Debatten mit solchen Begriffen für irreführend und nicht hilfreich. "'Brain rot' suggeriert schon aufgrund des Namens, dass es aufgrund des massiven Konsums von seichten Onlineinhalten zu einer Art von Hirnverwesung kommt", erklärt er. "Das ist Blödsinn."
Der Begriff lenke von den eigentlichen Problemen rund um soziale Medien ab - etwa nicht altersangemessene Inhalte, Körperunzufriedenheit bei ständigem Konsum von Bildmaterial mit unrealistischen Körperidealen und Fake News.
Und was ist mit der "Generation Goldfisch"?
Der Begriff geht auf eine Präsentation eines großen Unternehmens von 2015 zurück, wonach die menschliche Aufmerksamkeitsspanne durch ständige digitale Reizüberflutung im Jahr 2013 nur noch acht Sekunden betrug und damit unter der eines Goldfischs (neun Sekunden) lag. Fakt ist: Das ist kein Fakt, sondern ausgedachter Nonsens.
Niemand hat je die Aufmerksamkeitsspanne eines Goldfischs erfasst, wie Fischexperten betonen. Und auch nicht die eines Menschen, denn: "Die Aufmerksamkeitsspanne als gemessenen Wert gibt es gar nicht", erklärt Lindberg. Aufmerksamkeit sei vielmehr eine Art Scheinwerferlicht, das bestimme, worauf sich die Konzentration richte.
Hakt es denn bei der Konzentrationsfähigkeit?
Ja und nein. Einem an das ständige Geblinker sozialer Medien gewöhnten Gehirn kann es tatsächlich viel schwerer fallen, sich ausdauernd etwa dem Lesen eines Textes zu widmen - erst recht, wenn das Smartphone in Reichweite ist. "Habe ich ein Like?", "Hat mir wer geschrieben?" und "Hab ich eigentlich dieses Video zu Ende geguckt?" Solche Gedanken störten dann oft, sagt Lindberg.
Wenn man sich einem Thema widme, dauere es etwa 10 Minuten, um reinzukommen, erklärt Lankau. Anschließend folgten typischerweise 20 bis 30 Minuten konzentriertes Arbeiten, dann eine Pause. Dieser Zyklus wiederhole sich. Das Smartphone mit all seinen Verlockungen verkürze die theoretisch mögliche persönliche Konzentrationszeit nicht, erschwere es aber, die Konzentration tatsächlich zu halten. Das birgt die Gefahr, schlechter lernen zu können.
Heißt das, wir werden alle dümmer?
Statistiken weisen auf einen Zusammenhang zwischen der Nutzung sozialer Medien und Bildungserfolg hin. "Wir haben in den USA eine Studie durchgeführt, in der wir die Bildschirmzeit von den Smartphones in den Kontext der Noten der Studierenden gesetzt haben", sagt Montag. Tatsächlich habe es einen Zusammenhang zwischen längerer Nutzungszeit der sozialen Medien und schlechteren Noten. "Zudem gibt es durchaus Evidenz, dass Smartphone-Verbote in Bildungseinrichtungen zu verbesserten Noten führen können."
Der Datenanalyst John Burn-Murdoch hat für die "Financial Times" Mittelwerte von Langzeitstudien internationaler Organisationen wie der OECD ausgewertet. Demnach sinken die Denk- und Problemlösefähigkeiten von Teenagern im Lesen, Rechnen und bei naturwissenschaftlichen Aufgabenstellungen seit etwa 2010. Ein immer höherer Prozentsatz junger Menschen gebe an, sich nicht mehr so gut konzentrieren können wie früher.
Lankau meint: "Wenn man als Intelligenz wertet, durch die Anwendung und Kombination von Gelerntem handlungsfähig zu sein - ja, dann werden wir eher dümmer." Um einem Problem oder einer Fragestellung wirklich auf den Grund zu gehen, müsse man Argumente destillieren, lange Texte analysieren und langen Debatten folgen können, sagt Lankau. "Es ist eines der größten Probleme, das kritisches Denken verlernt wird." Demokratien kann dies Experten zufolge gefährlich werden.
Was haben denn soziale Medien mit Demokratie zu tun?
Mehr, als vielen wohl bewusst ist. Soziale Medien seien heute zentral für die Meinungsbildung und als Informationsquelle, sagt Philipp Lorenz-Spreen von der TU Dresden. Gerade junge Menschen nutzten oft gar keine anderen Angebote mehr. Und gerade sie seien empfänglich für gezielte Beeinflussung und Manipulation, sagt Lankau.
Um Nutzer im Meer der Belanglosigkeiten gezielt zu locken, muss es in sozialen Medien möglichst emotional zugehen, die Botschaften müssen einfach sein und die Beiträge nicht so lang, dass der Nutzer gleich wieder das Interesse verliert, erklärt Lorenz-Spreen. Wenige, schnell geschnittene Sekunden sind optimal. In sieben oder auch nur fünf Sekunden lassen sich komplexe Sachverhalte schwerlich vermitteln - sehr wohl aber einfache, möglichst moralisch-emotional aufgeladene Botschaften. Für extreme Beiträge gibt es die meisten Likes.
Für Menschen wie US-Präsident Donald Trump mit simplen, knalligen Statements seien soziale Medien die perfekte Bühne - und das wiederum sei brandgefährlich, sagt Lorenz-Spreen. "Soziale Medien zündeln an Gesellschaften, um Geld zu verdienen", warnt er. "Ich wundere mich, dass die Demokratien das so hinnehmen."
Studien zeigten, dass die Nutzung sozialer Medien statistisch mit der Unterstützung populistischer Parteien einhergeht, mit vermindertem Vertrauen in Institutionen, mit mehr Wir-gegen-die-Gefühl. Diesen Zusammenhang ursächlich zu belegen, sei schwierig, zumal es viele Faktoren wie die Pandemie und die wachsende Ungleichheit gebe, die zu zunehmender Polarisierung beitrügen. "Aber den Sprung von Unzufriedenheit zu Populismus, dafür braucht es oft den Einfluss sozialer Medien", ist Lorenz-Spreen überzeugt. "Dort werden Feindbilder geschaffen."
Soziale Medien beeinflussen auch, welche Nachrichten von klassischen Medien noch aufgegriffen werden, wie Überschriften dort klingen müssen und wie öffentliche politische Debatten zu führen sind, sagt Lorenz-Spreen. Der für Parteien wie die AfD typische Kommunikationsstil werde normalisiert. Aus sachlicher Ablehnung der "anderen" werde - stark schon in den USA, beginnend auch in Deutschland - emotionale Ablehnung. "Bis zu politischer Gewalt ist es dann nicht mehr weit."
Quelle: ntv.de, Annett Stein, dpa