Mythen auf dem Prüfstand Ist Asperger-Autismus eine Modeerscheinung?
05.05.2024, 14:34 Uhr Artikel anhören
Erfüllt diagnostische Kriterien des Asperger-Syndroms, verzerrt aber auch das öffentliche Bild von Autismus: Sheldon Cooper und seine Freundin Amy Fowler in der US-Sitcom "The Big Bang Theory".
(Foto: picture alliance/dpa/-)
Von sogenannten Kühlschrankmüttern bis hin zum gefühlskalten Genie: Über das Asperger-Syndrom als Form des Autismus kursieren viele Mythen. Doch entsprechen diese der Realität? Ein Faktencheck.
Ob Sheldon Cooper in der US-Sitcom "The Big Bang Theory" oder Raymond Babbitt im Film "Rain Man": Autistische Charaktere finden immer wieder Einzug in Film und Fernsehen. Doch die meist stereotypen und zum Teil stark überzeichneten Darstellungen können den falschen Eindruck erwecken, dass alle Autisten sozial unfähige und empathielose Genies sind.
Bei Autismus handelt es sich um eine tiefgreifende Entwicklungsstörung. Heute spricht man eigentlich von der Autismus-Spektrum-Störung, da die Übergänge zwischen den verschiedenen Formen und zur "Normalität" fließend sind. Dennoch wird häufig noch zwischen frühkindlichem Autismus, atypischem Autismus und dem Asperger-Syndrom unterschieden. Das Asperger-Syndrom ist dabei eine milde Form des Autismus.
Trotz der Tatsache, dass das Asperger-Syndrom Gegenstand zahlreicher Studien und die Diagnoserate in den vergangenen Jahren stark gestiegen ist, wird es oft missverstanden und es kursieren weiterhin viele Mythen rund um dieses Thema. Diese Missverständnisse führen dazu, dass Betroffene in vielen Lebensbereichen auf Unverständnis stoßen und häufig mit sozialer Ausgrenzung konfrontiert sind.
1. Mythos: Asperger-Autismus ist eine Modeerscheinung
Fakten: Stimmt teilweise
Die gestiegene Anzahl an Diagnosen führt dazu, dass viele Menschen das Asperger-Syndrom nicht ernst nehmen. Betroffene, die in sozialen Medien von ihren Erfahrungen berichten, werden häufig beschuldigt, nur eine attraktive Entschuldigung für soziale Schwierigkeiten haben zu wollen. Laut Livia Eschke, Kinder- und Jugendtherapeutin in Bonn, ist die Zunahme der Diagnosen aber darauf zurückzuführen, dass sich das Bewusstsein für Asperger-Autismus und auch die diagnostischen Möglichkeiten verbessert haben. "Gleichzeitig nehme ich in der psychoanalytischen Praxis einen Anstieg von Laiendiagnostik wahr, die zur Schuldentlastung der Bezugspersonen von potenziell Betroffenen dient", sagt sie ntv.de.
"Bezugspersonen kommen dann mit der Vorstellung, der Patient sei 'einfach ein Asperger' und das gesamte Bezugssystem habe damit nichts zu tun. Oft werden 'schwierige Kinder' in der Praxis angemeldet, anstatt sich mit ihren seelischen Problemen auseinanderzusetzen", so Eschke. "Ich möchte aber den positiven Effekt hervorheben, den die sensiblere Wahrnehmung und Deutung von Symptomen mit sich bringt." So würden nun auch diejenigen mit einer weniger ausgeprägten Symptomatik, die in der psychiatrischen Praxis übersehen werden, diagnostiziert und damit entlastet werden.
Auch Mädchen und Frauen würden nicht mehr so häufig durch das Diagnoseraster fallen, das auf männliche Patienten ausgerichtet war, sagt die Expertin. Fakt ist: Bei dem Asperger-Syndrom handelt es sich um eine medizinisch anerkannte Entwicklungsstörung, die die Lebensqualität und das tägliche Funktionieren betroffener Personen erheblich beeinflussen kann.
2. Mythos: Asperger-Autismus entsteht durch Erziehungsfehler oder Impfungen
Fakten: Stimmt nicht
"Kannst du dein Kind nicht erziehen" oder "Du verwöhnst dein Kind zu sehr": Diese oder ähnliche Sätze bekommen Eltern autistischer Kinder wohl häufig zu hören. Noch in den 1940er-Jahren stellte der Kinder- und Jugendpsychiater Leo Kanner die These auf, dass gefühlskalte Mütter, sogenannte "Kühlschrankmütter", schuld am Autismus ihres Kindes sein könnten, revidierte diese Ansicht später aber wieder. Die Theorie wurde jedoch von anderen Wissenschaftlern aufgegriffen und führte dazu, dass Eltern autistischer Kinder in der Vergangenheit unter ungerechtfertigten Vorwürfen litten.
Bis heute ist die Ursache für die Entstehung einer Autismus-Spektrum-Störung nicht vollständig geklärt. Fest steht jedoch: Erziehungsfehler haben damit nichts zu tun. An Theorien über die Ursache hat es in der Forschungsgeschichte aber nicht gemangelt. Statt Rabenmüttern geben heute vor allem Verschwörungstheoretiker Impfungen die Schuld. Dänische Forscher widerlegten 2019 aber die hartnäckige Behauptung, dass Autismus durch die Dreifachimpfung gegen Masern, Mumps und Röteln ausgelöst werde. In internationalen Studien wurde laut dem Robert-Koch-Institut zudem festgestellt, dass Autismus bei geimpften und ungeimpften Kindern gleich häufig auftritt.
Heute geht die Forschung von einem komplexen Zusammenwirken verschiedener Gene und Umweltfaktoren aus, das die Hirnentwicklung und -funktion beeinflusst. Neurologische Befunde deuten darauf hin, dass bestimmte Hirnstrukturen anders arbeiten und vernetzt sind. Während etwa Bereiche, die für soziale Kompetenzen wichtig sind, bei Asperger-Autisten tendenziell schwächer miteinander verbunden sind als bei neurotypischen Menschen, weisen Regionen, die für die Verarbeitung sensorischer Reize zuständig sind, eine erhöhte Aktivität auf. Dies erklärt, warum zum Beispiel Geräusche als stärker oder störender wahrgenommen werden als von Nichtautisten.
Als Risikofaktoren für die Entstehung des Asperger-Syndroms werden Infektionen wie Röteln und Komplikationen während der Schwangerschaft angesehen. "Das Gesamtverständnis für Autismus-Spektrum-Störungen hat sich verändert", betont Professor Stefan Röpke, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Leiter der Autismusambulanz der Charité. "Auch Therapien haben sich entwickelt. Man versteht jetzt, dass Autismus eine biologische und eine genetische Ursache hat. Es ist keine Eigenart von Menschen, es hat Ursachen."
3. Mythos: Asperger-Autisten haben keine Gefühle
Fakten: Stimmt nicht
Soziale Interaktion mit anderen fällt Menschen im Autismus-Spektrum in der Regel schwer. Sie meiden Blickkontakt, mögen keinen Small Talk und haben oft Probleme, die Mimik, den Tonfall oder die Körpersprache ihres Gesprächspartners zu deuten. So kann es passieren, dass sie nicht auf nonverbale Signale reagieren oder Sarkasmus nicht verstehen. Umgekehrt fällt es ihnen häufig selbst schwer, Emotionen über Mimik, Gestik oder Stimmlage mitzuteilen und diese einzusetzen.
Ein Erlernen dieser Fähigkeiten ist möglich, aber mit großem Aufwand verbunden. Auf Nichtautisten wirken sie aufgrund der Defizite schnell gefühlskalt und desinteressiert. "Oft kann man bei ihnen aber sogar ein besonders ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden beobachten und dass gerade im Bereich der Selbsthilfe ein enormes Engagement vorhanden ist, um sich gegenseitig zu helfen", sagt Rainer Döhle vom Selbsthilfeverein Aspies e.V. in Berlin.
"Auch wird man selten autistische Menschen finden, die sich an der Ausgrenzung, Mobbing oder Diskriminierung anderer beteiligen, gerade weil sie selbst oft genug entsprechende Erfahrungen machen mussten." Asperger-Autisten haben also Gefühle - aber sie teilen diese nicht zwangsläufig auf die gewohnte Weise mit, sondern eher verbal, durch Taten oder auch auf ihre ganz eigene Art und Weise.
4. Mythos: Asperger-Autisten sind immer geistig beeinträchtigt
Fakten: Stimmt nicht
Das Asperger-Syndrom zählt nach dem ICD, dem internationalen Klassifikationssystem für Krankheiten, zu den Entwicklungsstörungen. Allerdings werden einzelne Formen von Autismus nicht mehr unterschieden. Anders als bei einer geistigen Beeinträchtigung liegt bei Asperger-Autisten jedoch nicht zwingend eine kognitive Einschränkung vor. Im Gegenteil: Sie sind häufig intelligent oder sogar überdurchschnittlich intelligent. Auch ist die Sprachentwicklung im Gegensatz zu anderen Autismusformen in der Regel nicht verzögert. Sie können trotz Einschränkungen und Herausforderungen im Alltag, gegebenenfalls mit Unterstützung, voll funktionsfähig sein. Daher wird das Asperger-Syndrom oft auch als hochfunktionale oder milde Form des Autismus bezeichnet.
Die Wahrnehmung und der Umgang mit dem Asperger-Syndrom können aber sehr individuell sein. Die Symptome und Schwere der Defizite variieren von Person zu Person. Psychologen sprechen daher auch von einer Spektrum-Störung. Ob man sich selbst als beeinträchtigt ansieht oder die Störung als Wesenszug betrachtet, hängt von verschiedenen Faktoren ab, darunter dem eigenen Funktionsniveau, dem persönlichen Wohlbefinden und dem eigenen Umfeld.
Im Sinne des Sozialgesetzbuches sind Autismus-Spektrum-Störungen allerdings Behinderungen. "Seit 2011 können Patienten mit Asperger-Syndrom - auch die, die keine kognitiven Einschränkungen haben - einen Antrag auf Feststellung des Grades einer Schwerbehinderung stellen", erklärt Psychologin Eschke. "Dabei geht es aber um eine Teilhabe-Beeinträchtigung, die von verschiedenen Faktoren abhängt. Nicht jeder Patient mit einem Asperger-Syndrom ist also behindert." Beim frühkindlichen Autismus liegt häufig jedoch auch eine geistige Beeinträchtigung vor.
5. Mythos: Das Asperger-Syndrom ist heilbar
Fakten: Stimmt nicht
Das Asperger-Syndrom ist angeboren und nicht heilbar. Mit verschiedenen Therapieformen und einem günstigen sozialen Umfeld kann Betroffenen und ihren Angehörigen aber geholfen und der Leidensdruck reduziert werden. "Erst einmal ist es wichtig, im Rahmen einer Psychotherapie mit den Betroffenen gezielt über die Krankheit zu sprechen, damit sie wissen, dass die Besonderheiten einen Namen haben und sie diese auch verstehen können", sagt Professor Röpke. "Man bringt den Betroffenen bei, besser mit ihren Gefühlen umgehen zu können. Aber auch wie sie zum Beispiel eine Inselbegabung im Alltag nutzen können und wie sie Räume schaffen können, wo für ihre Besonderheiten Platz ist."
Wichtig für eine gelungene Integration ist auch die Anpassung des Umfelds. Ist dieses verständnisvoll und auf ihre Bedürfnisse abgestimmt, können Asperger-Autisten nämlich ihre Stärken einbringen. Zu diesen gehören laut Döhle oft eine ausgeprägte Fähigkeit zur Konzentration und Detailgenauigkeit sowie ein tiefes Interesse und Fachwissen in spezifischen Bereichen. Zudem gelten sie als sehr ehrlich und loyal.
Klare Regeln und feste Abläufe können Betroffenen helfen, da sie ihnen Sicherheit geben. "Vielversprechend ist auch, dass Arbeitgeber sich jetzt langsam darauf einrichten, Arbeitsplätze für Menschen mit Asperger-Autismus zu schaffen", so Röpke. Bei Menschen, die empfindlich gegenüber sensorischen Reizen sind, könne es zum Beispiel helfen, allein und reizabgeschirmter zu arbeiten, statt in einem Großraumbüro zu sitzen.
Quelle: ntv.de