Hohe Genauigkeit KI kann Risiko für über 1000 Erkrankungen Jahre vorher berechnen
18.09.2025, 11:15 Uhr Artikel anhören
"Unser KI-Modell ist ein Machbarkeitsnachweis, der zeigt, dass es möglich ist, viele langfristige Gesundheitsmuster zu erkennen und diese Informationen zu nutzen, um aussagekräftige Vorhersagen zu generieren", sagt Moritz Gerstung vom DKFZ, einer der beteiligten Forscher.
(Foto: picture alliance / Zoonar)
Welche Krankheiten drohen mir in der Zukunft wahrscheinlich? Das wollen Menschen seit jeher wissen. Nun gibt es das KI-Modell Delphi-M2, das auf Grundlage vieler Daten individuelle Erkrankungsrisiken prognostiziert. Forschern zufolge treten die berechneten Wahrscheinlichkeiten tatsächlich mit der erwarteten Häufigkeit ein.
Ein neues Modell auf der Basis Künstlicher Intelligenz (KI) kann nach Forscherangaben das langfristige individuelle Risiko für mehr als 1000 Erkrankungen einschätzen. Es ist ein generativer vortrainierter Transformer (GPT) und hat damit Ähnlichkeit mit dem großen Sprachmodell hinter ChatGPT. Das Forschungsteam nannte es Delphi-2M. Es trainierte das Modell anhand von 400.000 Patienteneinträgen einer großen britischen Datenbank (UK Biobank) und konnte es mit nur geringem Genauigkeitsverlust auf fast zwei Millionen dänische Patientendaten anwenden.
Die Studie der Gruppe um Moritz Gerstung vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) sowie Ewan Birney und Tom Fitzgerald vom European Molecular Biology Laboratory (EMBL) in Hinxton (Großbritannien) ist im Fachjournal "Nature" erschienen.
"Unser KI-Modell ist ein Machbarkeitsnachweis, der zeigt, dass es möglich ist, viele langfristige Gesundheitsmuster zu erkennen und diese Informationen zu nutzen, um aussagekräftige Vorhersagen zu generieren", wird Birney in einer Mitteilung des DKFZ zitiert.
Das Modell kann nach einzelnen Patienten aufgelöst werden - es ist deshalb prinzipiell möglich, individuelle Krankheitsgeschichten zu rekonstruieren und daraus Prognosen für die weitere Entwicklung von Krankheitsrisiken und -verläufen abzuleiten. Andererseits kann das Modell die gesundheitliche Entwicklung größerer Bevölkerungsgruppen vorhersagen und somit Anhaltspunkte liefern, wie die Gesundheitsversorgung verbessert werden kann.
Risiken für mehr als ein Jahrzehnt in die Zukunft zu berechnen
"So wie große Sprachmodelle aus der Abfolge von Wörtern in Texten die Grammatik unserer Sprache lernen können, lernt dieses KI-Modell die Logik der zeitlichen Abfolge von Ereignissen in Gesundheitsdaten, um ganze Krankengeschichten zu modellieren", erklärte Gerstung laut DKFZ-Mitteilung. Die gelernten Muster ermöglichen es dem KI-Modell, die Wahrscheinlichkeit für Krankheitsrisiken zum aktuellen Zeitpunkt und für mehr als ein Jahrzehnt in die Zukunft zu berechnen. Neben Krankheitsdiagnosen auf der Basis der internationalen Krankheitsklassifikation ICD-10 gehen weitere Merkmale, wie Alter, Geschlecht, Body-Mass-Index, Rauchgewohnheiten und Alkoholkonsum in die Wahrscheinlichkeitsberechnung ein.
Nachdem Delphi-2M mit den 400.000 Datensätzen aus der UK Biobank trainiert worden war, wurde es an weiteren 100.000 Datensätzen aus derselben Datenbank getestet. Anschließend wendeten die Forscher das Modell auf 1,93 Millionen Datensätze aus dem dänischen nationalen Patientenregister im Zeitraum 1978 bis 2018 an, ohne zuvor Anpassungen vorzunehmen. Die Forschenden konnten zeigen, dass die vom Modell berechneten Wahrscheinlichkeiten tatsächlich mit der erwarteten Häufigkeit eintraten.
"Die Tatsache, dass Delphi-2M mit leicht reduzierter Genauigkeit auf dänische Bevölkerungsdaten angewendet werden kann, deutet darauf hin, dass viele vom Modell erlernte Muster die tatsächliche Entwicklung multipler Erkrankungsraten genau widerspiegeln", schreiben die Studienautoren.
Delphi-2M funktioniert länderübergreifend
Für Fabian Theis, Direktor des Instituts für Computational Biology am Helmholtz Zentrum München, ist die Übertragung auf eine Kohorte eines anderen Landes ein Durchbruch. Dies zeige, wie robust das Modell ist. "Es hat schon einige medizinische Modelle mit guten Ergebnissen gegeben, doch sie haben meist nur in einem Krankenhaus funktioniert und im nächsten schon nicht mehr", sagte Theis, der nicht an der Studie beteiligt war. Auch Ewan Birney sagte während einer Pressekonferenz, dass das positive Ergebnis mit den dänischen Daten das Vertrauen der Wissenschaftler in ihr Modell sehr gestärkt habe.
In einer Grafik zeigen die Studienautoren, wie mehrere Erkrankungen, die die Bauchspeicheldrüse, die Leber und den Gallenweg betreffen, sowie Diabetes mellitus und Verdauungsstörungen das Risiko für Bauchspeicheldrüsenkrebs um das 19-Fache erhöhen. Den Forschern zufolge eignet sich Delphi-2M besonders für Krankheiten mit deutlichen Verlaufsmustern wie bestimmte Krebsarten oder Herzinfarkte. Bei Infektionen oder psychischen Erkrankungen, die von unvorhersehbaren Lebensereignissen abhängen, sei es jedoch weniger zuverlässig. "Entscheidend ist, dass es sich dabei nicht um eine Gewissheit handelt, sondern um eine Einschätzung der potenziellen Risiken", sagte Tom Fitzgerald.
Noch weiter Weg bis zum klinischen Alltag
Das KI-Modell kann durch die Vielzahl der Trainingsdaten Anzeichen für Erkrankungen erkennen, die bei ärztlichen Untersuchungen in der Regel nicht offenbar werden. "Indem wir modellieren, wie sich Krankheiten im Laufe der Zeit entwickeln, können wir untersuchen, wann bestimmte Risiken auftreten und wie frühzeitige Interventionen am besten geplant werden können", erklärte Birney. Dies sei ein großer Schritt in Richtung personalisierter und stärker vorbeugender Ansätze in der Gesundheitsversorgung.
Allerdings dürfte es noch ein weiter Weg werden, bis Delphi-2M oder eine Nachfolgeversion im klinischen Alltag eingesetzt werden kann, aus Patienten- und Datenschutzgründen. Gerstung schätzt, dass es fünf bis zehn Jahre dauern dürfte.
Sollte das KI-Modell bei einzelnen Patienten zum Einsatz kommen, dürfe es "nur ein ergänzender Baustein sein und muss auf jeden Fall durch das ärztliche Urteil flankiert werden", sagte Markus Herrmann vom Institut für Medizin- und Datenethik der Universität Heidelberg. Die Patienten müssten über den Einsatz der Technologie und deren Aussagekraft aufgeklärt und die Ergebnisse müssten zwischen Arzt und Patient ausführlich besprochen werden.
Um den Entscheidungsspielraum der Patienten nicht einzuengen, plädiert Medizinethiker Robert Ranisch von der Universität Potsdam für die Möglichkeit eines Verzichts: "Entscheidend bleibt deshalb auch ein Recht auf Nichtwissen."
Digitaler Zwilling soll bei Therapie helfen
Ranisch sieht aber auch die Chancen des KI-Modells, wenn es auf größere Bevölkerungsgruppen angewendet wird: "Es kann im Sinne einer gerechten Verhältnisprävention genutzt werden, um für benachteiligte Gruppen Versorgungslücken zu erkennen." Für Carsten Marr vom Helmholtz-Zentrum München ist vor allem spannend, Zusammenhänge zwischen Krankheiten zu finden, die bisher nicht bekannt waren. "Es gibt eine Studie, in der nachgewiesen wurde, dass eine Epstein-Barr-Virus-Infektion zu einem 30-fach erhöhten Risiko für Multiple Sklerose führt. Das sind die Sachen, die wir suchen", sagte Marr.
Ein wichtiger Aspekt bei der Weiterentwicklung des KI-Modells wird sein, mögliche Verzerrungen zu berücksichtigen. So waren für das KI-Training nur Datensätze von Patienten im Alter von 40 bis 70 Jahren genutzt worden; andere Altersgruppen waren also nicht repräsentiert. Die Über- oder Unterschätzung könnte auch Gruppen betreffen, die sich nach Herkunft und sozialem Status unterscheiden. "Ein Modell, das gleich Hunderte Krankheiten vorhersagt, bündelt Chancen, verstärkt aber auch das Risiko von Verzerrungen", warnte Ranisch.
Doch bei den Studienautoren überwiegt die Zuversicht: "Das ist der Beginn einer neuen Art, die menschliche Gesundheit und den Verlauf von Krankheiten zu verstehen", prognostizierte Gerstung. Fabian Theis kann sich vorstellen, dass es eines Tages einen digitalen Zwilling eines Patienten geben wird, der sich aus Gesundheits- und Lebensstildaten speist. "Da kann dann beispielsweise geschaut werden, wie der virtuelle Patient auf eine Medikamentenveränderung reagiert, ohne dass man es beim realen Patienten ausprobieren muss", erläuterte Theis.
Quelle: ntv.de, Stefan Parsch, dpa