Instandsetzen statt Aufforstung Wie viel CO₂ kann naturbelassener Wald binden?
14.11.2023, 19:44 Uhr Artikel anhören
Je naturbelassener ein Wald ist, umso größer ist auch die Biodiversität in ihm.
(Foto: imago images/imagebroker)
Bäume benötigen Kohlendioxid zum Wachsen. Wälder sind deshalb gigantische Kohlendioxidspeicher. Wie viel von dem Treibhausgas insgesamt aufgenommen werden könnte, berechnen Forschende. Doch Fachleute warnen angesichts der Ergebnisse vor falschen Schlüssen.
Wälder mit großer Biodiversität haben ein erhebliches Potenzial, Kohlenstoff zu binden und damit die Konzentration des Treibhausgases Kohlendioxid (CO₂) in der Atmosphäre zu verringern. Das ist das Ergebnis einer internationalen Studie unter Leitung von Thomas Crowther von der Schweizer ETH Zürich. Wie die Forschungsgruppe im Fachblatt "Nature" zeigt, könnten durch die Aufforstung geeigneter Flächen und Instandsetzung bestehender degradierter Wälder 226 Milliarden Tonnen Kohlenstoff zusätzlich gebunden werden. Zur Einordnung: Laut "Global Carbon Budget 2022" entsprachen die globalen fossilen CO₂-Emissionen im vergangenen Jahr 10 Milliarden Tonnen Kohlenstoff. Unabhängige Experten nennen die Ergebnisse robust, warnen aber vor falschen Schlüssen.
Schon 2019 hatte eine ähnliche Studie von Crowthers Arbeitsgruppe für Aufsehen gesorgt: Diese hatte das Potenzial der Kohlenstoffbindung durch Aufforstung auf 205 Milliarden Tonnen beziffert - eine Schätzung, die von anderen Forschenden als viel zu hoch kritisiert wurde. Ein internationales Team unter Leitung des "Crowther Lab" suchte daher nun nach Wegen, die Unsicherheiten des Werts zu verringern. Für die neue Arbeit kombinierte die Gruppe Daten von Messungen der Biomasse am Boden mit Satellitenaufnahmen, um den in Wäldern gebundenen Kohlenstoff zu bestimmen.
Neue Berechnungen nach Kritik
Das Forschungsteam berücksichtigte dabei neben den Bäumen auch Wurzelsysteme, Totholz und Böden. Es schätzte dann auf Grundlage verschiedener Modellierungen, dass Wälder weltweit 328 Milliarden mehr Tonnen Kohlenstoff speichern könnten, als es derzeit der Fall sei. 102 Milliarden Tonnen davon würden jedoch auf Flächen entfallen, auf denen Menschen siedeln oder auf denen sie Ackerbau und Viehzucht betreiben.
Wenn man diese Flächen abzieht, kommt man auf die Flächen, die 226 Milliarden Tonnen Kohlenstoff aufnehmen könnten. 39 Prozent dieses Potenzials entfalle auf die Aufforstung entwaldeter, aber ungenutzter Flächen. Der mit 61 Prozent deutlich größere Anteil des Potenzials entfalle auf die Wiederherstellung sogenannter degradierter Wälder, indem die Menschen sie zu ihrer natürlichen Vielfalt zurückkehren lassen. "Wiederherstellung bedeutet, den Wohlstandsfluss auf Millionen lokaler Gemeinschaften, indigener Bevölkerungsgruppen und Landwirte zu lenken, die die Artenvielfalt auf der ganzen Welt fördern", erklärt Crowther in einer Mitteilung. Nur wenn eine gesunde Biodiversität die bevorzugte Wahl der lokalen Gemeinschaften werde, könne als Nebenprodukt eine langfristige Kohlenstoffbindung erzielt werden.
Robuste Daten, dennoch viele Unsicherheiten
Für Florian Zabel vom Department für Geographie der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) sind die Ergebnisse der Studie robust und liegen insgesamt in ähnlicher Größenordnung wie andere Studien. Dennoch gebe es nach wie vor große Unsicherheiten, vor allem, was die Kohlenstoffspeicher in den Tropen angehe.
"Ein Defizit der Studie ist, dass die Folgen des Klimawandels nicht berücksichtigt werden - zum Beispiel eine Zunahme von Dürren und Waldbränden durch höhere Temperaturen, aber auch ein mögliches stärkeres Pflanzenwachstum durch CO₂-Düngung", erläutert Zabel weiter. Ebenso werde nicht berücksichtigt, dass der Druck auf Land durch eine steigende Lebensmittelnachfrage zukünftig steigen könnte - insbesondere durch einen höheren Fleischkonsum - und somit geringere Flächen für die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Verfügung stehen als gedacht.
Wälder sind dynamische Systeme
Für Christian Körner von der Universität Basel vernachlässigt die Studie grundsätzlich, dass Wälder dynamische Systeme seien, die sich nicht nur durch menschliche Einflüsse, sondern auch in unberührter Natur im ständigen Wechsel zwischen langsamen Aufbau und plötzlichem Zusammenbruch befänden, sei es durch Feuer, Windbruch oder Insekten: "Wälder, die dauerhaft einen maximalen 'Idealspeicher' aufweisen, wie hier angenommen, gibt es nicht."
Zudem würde der Zielkonflikt zwischen Speichern und Nutzen ignoriert. "Wenn man eine Gigatonne Kohlenstoff in Waldbiomasse festlegt, kann man diese Gigatonne Kohlenstoff nicht gleichzeitig zur Substitution von fossilen Rohstoffen einsetzen. Wie jedes Kind verstehen kann, kann man auf einem Stück Land Wald nur einmal installieren, hingegen kann man bei nachhaltigem Management den Wald theoretisch ewig nutzen", erklärt Körner.
Aufforstung ist wünschenswert
Aufforstung von brachliegendem, waldfähigem Land sei ökologisch absolut wünschenswert, die Wirkung als Kohlenstoffspeicher folge dabei aber sehr stark verzögert: "Mit den hier berechneten, maximal möglichen Vorräten ist, unabhängig von der Flächengröße, wohl erst in 100 bis 200 Jahren zu rechnen, wenn man sofort überall gleichzeitig beginnen würde."
Auch Markus Reichstein vom Max-Planck-Institut für Biogeochemie weist auf den zeitlichen Aspekt hin: "Dies ist natürlich eine entscheidende Größe, wenn es darum geht, in den nächsten Jahrzehnten den Klimawandel zu bekämpfen." Insofern suggeriere das Kohlenstoffpotenzial der Studie mehr, als in begrenzter Zeit möglich sei. "Gerade im Boden ist der Kohlenstoffgewinn langsam", so Reichstein. Zusammen mit anderen in der Studie außer Acht gelassenen Problemen bedeute dies, dass das Potenzial zur Kohlenstoff-Speicherung vermutlich nicht ausgeschöpft werden könne: "Dennoch kann die Restaurierung von degradierten Wäldern Teil eines Klimaschutz-Portfolios sein."
Für Florian Zabel verdeutlicht die Arbeit bei allen Defiziten den potenziellen Beitrag der Erhaltung, Wiederherstellung und nachhaltigen Bewirtschaftung von Wäldern zur Bindung von Kohlenstoff aus der Atmosphäre. "Für die Einschätzung der Studienergebnisse ist allerdings wichtig, dass dies langfristig kein Ersatz für die Minderung von Treibhausgasemissionen sein kann", unterstreicht der Geograf.
Auch Studienleiter Crowther hebt hervor, dass das Kohlenstoffspeicherpotenzial der Wälder nicht als Ausrede genommen werden dürfe, bei der angestrebten Reduzierung des CO₂-Ausstoßes nachzulassen: "Wir brauchen die Natur für das Klima, und wir brauchen Klimaschutz für die Natur!"
Quelle: ntv.de, Stefan Parsch, dpa