
Anna Timochenko bekommt ohne medizinische Hilfe in Butscha ihr Baby, das Mädchen Alice.
Stellen Sie sich vor, Sie sind schwanger - oder Ihre Frau, Freundin, Schwester, Tochter - und es gibt kein Wasser, keinen Strom. Keine Sicherheit. Keine Normalität. Und dann schlagen Bomben ein. Anna Timochenko ist es genau so ergangen.
"Am 24. Februar 2022 änderte sich unser aller Leben für immer", sagt Anna Timochenko in einem selbstgedrehten Video auf Facebook. "Ich bin 21 Jahre alt. Seit sechs Monaten lebe ich mit meinem Mann und meinem älteren Bruder in der Stadt Butscha, im Gebiet von Kiew. Zwei Wochen vor der Geburt meines Babys begann der Krieg."
Butscha - der Name steht für das Grauen schlechthin. Nach dem Abzug russischer Truppen wurden dort Hunderte Leichen gefunden. Das tatsächliche Ausmaß an menschlichem Leid in den belagerten Städten wird erst in Zukunft vollständig sichtbar werden. "Wir machen uns, glaube ich, keine Vorstellung davon, was wir dort noch sehen werden. Butscha, Irpin, Borodjanka und Hostomel sind nur die Spitze des Eisbergs", sagt eine Sprecherin von "Ärzte ohne Grenzen". In diesem Wahnsinn ein Kind zu bekommen - unvorstellbar.
Denn schwanger zu sein, das ist grundsätzlich ein wunderschöner Zustand. Welche Hoffnung darin liegt - die Hoffnung auf ein wunderbares Leben mit einem Kind, das meist das Produkt einer großen Liebe ist. Das Paar freut sich, es weiß, dass sich vieles im Leben ändern wird. Mit einem Krieg allerdings haben die, die im Herbst festgestellt haben, dass sie schwanger sind, wohl nicht gerechnet. Sie werden sich damals gefragt haben, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird, und: "Egal, Hauptsache gesund." Sie werden ihre Jobs und ihre Wohnungen angepasst haben an das große Ereignis.
"Seit den ersten Tagen wurde Butscha beschossen", erzählt Anna, die uns ihre Geschichte über die Organisation #weareallukrainians zukommen lässt, "und wir konnten nicht mehr rauskommen. Mein Mann, mein Bruder und ich mussten uns im Keller unseres Hauses verstecken. Von 7. bis 8. März spürte ich die Wehen, meine Lunge begann zu schmerzen und ich hatte Atembeschwerden. Wir versuchten, einen Arzt anzurufen, aber leider konnte er uns nicht mehr zu Hilfe kommen. Er wurde von einer russischen Straßensperre festgehalten. Sein Handy wurde von Russen zerstört und das war das Ende unseres Kontakts mit ihm."
Anna weiß nicht, ob der Arzt überhaupt noch lebt, aber sie hatte erst einmal andere Sorgen: Sie musste ihr Kind zu Hause gebären. "Gott sei Dank kamen meine Nachbarinnen, um mir zu helfen, ich bin ihnen so dankbar! Ich hätte nie gedacht, dass meine Nachbarn, mit denen ich vorher überhaupt keinen Kontakt hatte, mir so sehr helfen würden."
Das Beste draus gemacht
Eine der Nachbarinnen ist Therapeutin, das bedeutet, da ist jemand mit einem gewissen medizinischen Hintergrund. "Während der Geburt meines Kindes hat sie versucht, sich an alles zu erinnern, was ihr an der Universität beigebracht worden war", erzählt Anna. Die Wände und Fenster wackeln, es gibt keinen Strom, kein Wasser und kein Gas. Annas Kind kommt bei Kerzenschein auf die Welt. Statt in einem Kreißsaal liegt Anna auf Decken auf dem Boden, Feuchttücher sorgten für einen minimalen Hauch von Hygiene.
Stellen Sie sich vor - wenn Sie eine Frau sind - welche Sorgen Sie hatten, als Sie Ihr Kind bekamen: Wird es gesund sein, werden wir beide die Geburt gut überstehen? Und ja, wahrscheinlich ist alles gut gegangen, denn modernste Technik, eine Hebamme und umfassende Hygiene umgaben Sie. Als zukünftiger Vater wollten Sie Ihrer Frau beistehen, das Kind von der ersten Sekunde erleben. Sie haben für ein Nest gesorgt. Ein Nest der Sicherheit, der Wärme und Liebe. Nun, an Liebe mangelt es auch in der dunkelsten Zeit nicht, am Rest schon. "Als unser kleines Mädchen am 8. März geboren wurde und die Nabelschnur durchtrennt wurde, weinten alle sehr", erzählt Anna, "und wir waren sehr neugierig auf das Gewicht und die Größe des Babys. Leider hatten wir keine Baby-Waage und kein Zentimetermaß."
Anna erzählt, wie der Vater ihres Kindes sich auf die Personen-Waage gestellt hat, erst allein, dann mit dem Baby: Die Differenz ist das Gewicht des Babys. Die kleine Alice wiegt am Tag ihrer Geburt 3600 Gramm und ist 49 Zentimeter groß, gemessen mit einem Zollstock. "Wir haben uns das alles anders vorgestellt, aber wir haben das Beste daraus gemacht. Es ist uns gelungen", erzählt Anna erleichtert.
Anna und ihre Familie sind zusammen - sie werden nicht aufgeben: "Unser Volk ist sehr gutherzig. Ich bin unseren Nachbarn sehr dankbar für ihre Hilfe, insbesondere meiner Nachbarin, der Therapeutin. Dank dieser Menschen ist unser kleines Mädchen auf die Welt gekommen." Wie es weitergeht? "Wir sind eine starke Nation. Ich glaube an unseren Sieg. Ruhm für die Ukraine!"
Quelle: ntv.de