"Schnall dich an, es geht los" Ein Roman für die unsichtbare Generation Ost


Domenico Müllensiefen hat seine Wurzeln in der Altmark.
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In Jeetzenbeck ist vor 20 Jahren der letzte Zug gefahren. In dem Ort in der Altmark sind ein paar Menschen übrig geblieben, denen nicht in den Sinn gekommen ist, anderswo ihr Glück zu suchen. Domenico Müllensiefen kennt diese Menschen gut.
Das Leben von Domenico Müllensiefen ist schön. Gerade ist sein zweiter Roman erschienen, "Schnall dich an, es geht los". Zwei Jahre nach seinem viel gelobten Debüt "Aus unseren Feuern" ist Müllensiefen nicht mehr schreibender Bauarbeiter, sondern freiberuflicher Schriftsteller. "Das war mein großer Traum. Dass ich mal irgendwann davon leben könnte", sagt der 37-Jährige im Gespräch mit ntv.de. "Der Weg dahin war verdammt weit."
Es ist ein Satz, der auch von einer seiner Romanfiguren stammen könnte. In "Schnall dich an, es geht los" nimmt Müllensiefen seine Leserinnen und Leser diesmal mit in die Altmark, einen dünn besiedelten Landstrich in Sachsen-Anhalt. Hier wuchs der Autor selbst auf und wenn man auf die Landkarte schaut, kann man die Orte aus dem Buch wiedererkennen - auch wenn Müllensiefen sie in literarische Orte verwandelt hat.
So wird aus Beetzendorf, wo sein Opa den Bahnhof maßstabsgetreu nachbaute, Jeetzenbeck, wo künftig kein Zug mehr halten wird. Es fährt ohnehin kaum noch einer mit der "Ferkeltaxe", auch nicht Marcel, der irgendwie übriggeblieben ist in Jeetzenbeck. 1986 geboren, dann Schule, was schon nicht so gut geklappt hat. Die Lehre zum Kfz-Mechaniker hat dann noch weniger gut geklappt und jetzt ist Marcel Drehspießverkäufer in einem Imbiss.
Seine Jugendliebe Steffi ist schon lange abgehauen, niemand weiß wohin, die kleine Schwester Vanessa ist vor Jahren mit Absicht und voller Geschwindigkeit in die Friedhofsmauer gerast und dabei ums Leben gekommen, sein Freund Pascal säuft, die Mutter raucht den ganzen Tag in ihrer Wohnung, der Vater ist von der Bildfläche verschwunden, nachdem er sich, ebenso wie Pascals Vater, auf dubiose Geschäfte mit Nazi-Devotionalien eingelassen hatte. Das klingt alles sehr trostlos und traurig, doch das ist die Geschichte überraschenderweise nicht.
Seltsame Unsichtbarkeit
"Marcel liebt seine Heimat, er hat dazu keinen chauvinistischen Bezug und auch keinen patriotischen", sagt Müllensiefen über die Figur. "Aber er liebt diese Gegend und er hat ein tiefes Verständnis für die Menschen und ihre Eigenheiten. Manchmal fehlen ihm nur ein bisschen die Worte oder die Gestaltungsmöglichkeiten."
Er habe dieser Generation Ost eine Stimme geben wollen, sagt Müllensiefen. "Die Eltern und vielleicht auch noch die Leute, die zehn Jahre älter waren als wir, die haben die Wendezeit und die Wiedervereinigung voll mitbekommen und hatten die Möglichkeit, zu gestalten - in positiver und negativer Sicht. Aber bei meiner Generation hatte ich immer das Gefühl, dass die eigentlich nie zu Wort kam."
Diese Unsichtbarkeit nimmt der Autor auch für viele kleine Orte in der ostdeutschen Provinz wahr, nicht nur in der Altmark, sondern auch in der Uckermark oder im Vogtland. "Man fährt durch die Orte und man vergisst sie gleich wieder, man sieht eine Kirche, einen Friedhof, ein paar Wohnhäuser, vielleicht einen Briefkasten, aber man sieht keine Geschäfte und kaum Menschen. Und dann habe ich mich gefragt: Wie würde hier eigentlich mein Leben aussehen? Was hätte sein können?" Es ist auch die Frage nach den Kindern, deren Väter in Springerstiefeln und Glatze unterwegs waren und ihre eigene Unsicherheit mit übersteigerten Männlichkeitsbildern übertünchten, bis sie dann oft genug doch verschwanden, im Knast, in Suchtwelten oder einfach so.
Keine Idee von der Zukunft
Der Roman hat drei zeitliche Ebenen: die Kindheitsjahre der Protagonisten, die frühen 2000er-Jahre und die Jetztzeit. Den Jahren, in denen die Eltern verbissen versuchen, im Nachwende-Deutschland klarzukommen und es einen Hauch von blühenden Landschaften gibt, folgen andere, in denen sich der Mehltau von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Nazigeist über das Land legt. Marcel beobachtet das zumeist, ohne selbst einzugreifen. "Das ist bei Marcel ähnlich wie bei Heiko in meinem ersten Buch. Die Figuren haben schon Ähnlichkeiten. Die können ganz schön viel aushalten und haben beide keine so richtige Idee, was sie von ihrer Zukunft eigentlich halten oder wie sie die angehen sollen."
So landet Marcel am Drehspieß im Laden des Mannes, der sein Schwiegervater hätte werden können. Er ist der Ehemann von Marcels Lehrerin, die nie mit der sehr handfest vorgetragenen Erwartung zu ihm durchgedrungen ist, er solle etwas aus seinem Leben machen.
Die Trauer um die Schwester und die verlorene Liebe zu Steffi beschäftigen ihn, ebenso die Sorge um die Mutter, mit der er in einem zunehmend verwahrlosenden Mehrfamilienhaus lebt. Immerhin ist es noch bewohnt, anders als die Einfamilienhäuser, die einmal voller Zukunftsglauben und mit zu hohen Krediten gebaut wurden. Wer konnte, ist weggegangen, wie Steffi oder jener Mitschüler Mülle, der seine Ausbildung abgeschlossen hat und in dem der Autor nicht zu übersehen ist.
Marcel erträgt das alles mit freundlichem Stoizismus: Niemals ist ihm in den Sinn gekommen, anderswo sein Glück zu suchen. "Das ist eine Perspektive von Leuten, die viel Pech hatten und dadurch halt in Strukturen reingerutscht sind, aus denen es sehr schwer ist, rauszukommen", sagt Müllensiefen. Das sei in der Altmark nicht anders als in strukturschwachen Regionen in Westdeutschland.
Der schwierige Neuanfang
Gleiches gilt vermutlich für die demografischen und biografischen Entwicklungen. Selbstbewusste, gut ausgebildete, junge Frauen gehen weg. "Es fehlen der feminine Widerspruch oder auch das erfolgreiche Frauenbild der selbstbestimmten Frau, die selbst entscheidet, wann und wo sie unter welchen Bedingungen arbeiten geht, wann sie Kinder bekommt", sagt Müllensiefen. Die Folgen seien nicht nur im Osten ein Männlichkeitsproblem. "Es entsteht eine sehr dominant männliche Perspektive, die vielleicht auch herrschaftlichen Systemen nicht abgeneigt ist."
Im Roman kommt frischer Wind nach Jeetzenbeck, als Steffi nach all den Jahren wieder auftaucht und eine Tanzschule aufbauen will, ausgerechnet im alten Kulturhaus. "In Beetzendorf, wo ich aufgewachsen bin, ist vor 20 Jahren der letzte Zug gefahren, von Oebisfelde nach Salzwedel", erzählt Müllensiefen. Aber es gebe einen Verein, der den Zug wieder fahren lassen will, auch wenn die Gleise illegal abgetragen wurden und die Brücke über den Mittellandkanal abgerissen werden musste.
Ein Kulturverein versucht, das Kulturhaus im Ort zurückzukaufen von einem Eigentümer, der es mal für wenig Geld bekommen und dann verfallen lassen hat, jetzt aber trotzdem einen fünfstelligen Betrag verlangt. Im Ort leben junge Familien, einige sind frühere Mitschüler von Müllensiefen. "Mehr als 50 Prozent der Leute dort wählen demokratische Parteien, bekennen sich zu unserem Grundgesetz und zu unserer Art der demokratischen Lebensweise. Und diese Leute finden gerade medial kaum statt", stellt der Autor fest.
Redebedarf trotz Schmerzen
In Müllensiefens Roman kommen eben diese Menschen vor und glücklicherweise erzählt Müllensiefen seine Geschichte nicht nur mit großer Liebe zu seinen Figuren und der Landschaft, in der sie leben, sondern auch mit einem wundervoll warmen Humor.
"Mit 'Aus unseren Feuern' habe ich in Ostdeutschland viel Verständnis gefunden, viel Kommunikationsbereitschaft und auch viel Widerspruch", erzählt Müllensiefen über die Lesungen nach seinem ersten Roman. "Ich glaube, die Ostdeutschen haben einen unglaublich starken Redebedarf und sind bereit, unter Schmerzen ihre eigene Geschichte aufzuarbeiten." Er weigert sich trotzdem, immer nur Ostdeutschland zu erklären und die Fragen zu beantworten, "warum Leute Nazis werden oder faschistische Parteien oder populistische Parteien wählen".
Müllensiefens nächstes Buch soll geografisch nicht zu verorten sein. Bis dahin wird "Aus unseren Feuern" ins Theater kommen und vielleicht eine Serie werden. Müllensiefen wird an der Reportageschule Reutlingen unterrichten, weil ihm das in den USA so viel Spaß gemacht hat. Er wird hoffentlich auch mit "Schnall dich an, es geht los" viele Leserinnen und Leser finden und feiern, dass er selbst aufgebrochen ist, um seine Träume wahr werden zu lassen.
Quelle: ntv.de