Carsten Linnemann im Interview "Für Neuwahlen sind die Werte dieser Parteien einfach zu schlecht"
08.06.2024, 09:35 Uhr Artikel anhören
Carsten Linnemann ist seit einem Jahr Generalsekretär der CDU.
(Foto: IMAGO/dts Nachrichtenagentur)
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann geht nicht davon aus, dass die Bundesregierung die von Bundeskanzler Olaf Scholz in Aussicht gestellten Abschiebungen nach Afghanistan umsetzen wird. "Ich hoffe wirklich, dass es passiert, glaube aber noch nicht daran", sagt Linnemann im Interview mit ntv.de.
Zum Gesprächsangebot von CDU-Chef Friedrich Merz an Scholz sagt Linnemann: "Wenn wir jetzt erneut Gespräche anbieten, dann nur unter der Bedingung, dass es auch die anderen ernst meinen und keine Spielchen betreiben. Das gilt auch für den Bundeskanzler."
Das gab es noch nie:
Exklusiv und zur besten Sendezeit diskutieren die Vorsitzenden der sechs großen deutschen Parteien die Ergebnisse der Europa- und der Kommunalwahlen.
- Friedrich Merz
- Lars Klingbeil
- Omid Nouripour
- Christian Lindner
- Alice Weidel
- Sahra Wagenknecht
Moderiert wird diese einmalige Runde von ntv-Politik-Chef Nikolaus Blome.
Schalten Sie ein: ntv, Sonntag, 9. Juni, 20:15 Uhr
ntv.de: Am Sonntag ist Europawahl, die CDU versteht sich als Europapartei. Hatten Sie mal ein Erlebnis, das Sie als Europa-Moment beschreiben würden?
Carsten Linnemann: Ja, ganz klar. Das war ein Austausch mit Frankreich, den ich als Jugendlicher mitgemacht habe. Das lief über die Städtepartnerschaft meiner Heimatgemeinde - dass es davon so viele gibt, ist wirklich ein Glücksfall für Deutschland. Mit 15, 16 Jahren war ich in einer Familie in Betton, einer Kleinstadt in der Bretagne. Für mich war das damals eine neue Kultur, ein europäisches Erlebnis.
Geht es nach dem Willen der CDU und der EVP, der Europäischen Volkspartei, dann bekommt Ursula von der Leyen nach der Europawahl eine zweite Amtszeit als Präsidentin der Europäischen Kommission. Ihre Amtszeit ist untrennbar mit Angela Merkel verbunden. Passt Ursula von der Leyen zur neuen Merz-Linnemann-CDU?
Ja. Das sehen wir insbesondere am Beispiel der Ukraine. Hier hat sie von Anfang stellvertretend für gesamte Europäische Union eine klare und unmissverständliche Haltung eingenommen. Sie kennen sicherlich die berühmte Frage, die man Henry Kissinger zuschreibt, wen man denn anrufen soll, wenn man mit Europa sprechen will. Jetzt wissen wir: Wer Europa anrufen will, meldet sich bei der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Beim Thema Verbrennerverbot und Green Deal liegen Sie nicht auf einer Linie.
Frau von der Leyen hat deutlich gemacht, dass es nicht darum geht, Verbrenner zu verbieten. Ab 2035 gibt es das Gebot, dass Neuwagen sauber sein müssen. Klimaneutrale Verbrenner wollen wir weiter erlauben. 2026 soll das Gesetz sowieso überprüft werden.
Um als Kommissionspräsidentin bestätigt zu werden, braucht Ursula von der Leyen die Unterstützung weiterer Parteien. Eine Kooperation mit Parteien wie der postfaschistischen Fratelli d'Italia der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat sie nicht ausgeschlossen.
Wir wollen gewinnen. Es gibt eine ganz klare Voraussetzung: Wer mit uns zusammenarbeiten will, muss pro Rechtsstaat, pro Ukraine und pro Europa sein. Punkt.
Erfüllt Melonis Partei diese Kriterien?
Voraussetzung einer Zusammenarbeit ist, dass diese Kriterien erfüllt werden.
Die Sozialdemokraten haben ausgeschlossen, Ursula von der Leyen zu wählen, wenn sie sich von einer der beiden Rechtsfraktionen unterstützen lässt. Kann es sein, dass es bei der Wahl der EU-Kommissionspräsidentin oder des Kommissionspräsidenten wieder eine Überraschung gibt?
Das hängt freilich vom Ergebnis ab. Wir kämpfen um jede Stimme.
Wir meinten eine Überraschung wie vor fünf Jahren, als Ursula von der Leyen überraschend Kommissionspräsidentin wurde - als Kompromisskandidatin. Könnte es wieder eine solche Lösung geben? Etwa den ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi?
Wir spielen auf Sieg. Und ich habe ein gutes Gefühl, dass es am Sonntag sehr gut ausgeht. Wir haben unser Grundsatzprogramm einstimmig verabschiedet, die Partei ist geschlossen wie nie zuvor. Und wir sind uns einig, dass wir prioritär an das Hauptproblem Bürokratie und Überregulierung ranmüssen. Denn das ist das zentrale Problem der deutschen Wirtschaft in der EU.
Bürokratieabbau ist ein echtes Dauerthema - manche sagen, wenn ein Politiker Bürokratieabbau verspricht, hat er schon gelogen.
Da ist was dran.
Warum ist das so?
Weil der Mut fehlt. Wenn Sie Bürokratie abbauen wollen, dann brauchen Sie Rückgrat, denn dann bekommen Sie sofort extremen Gegenwind. Ich war am Montag in Hamburg: Die Köhlbrandbrücke dort wurde 1974 nach vier Jahren Bauzeit eröffnet. Sie zu ersetzen soll bis 2046 dauern. Man könnte solche Projekte schneller umsetzen, indem man beispielsweise ans Verbandsklagerecht rangeht. Aber dann gibt es einen Schrei der Entrüstung. Man braucht dafür also in erster Linie Mut.
Der Bundeskanzler hat am Donnerstag im Bundestag Abschiebungen nach Afghanistan in Aussicht gestellt. Glauben Sie ihm, dass er diese Abschiebungen auch wirklich durchsetzen will?
Ich hoffe wirklich, dass es passiert, glaube aber noch nicht daran. Der Bundeskanzler hatte schon im Oktober im "Spiegel" angekündigt, dass "im großen Stil" abgeschoben wird. Jetzt diese Ankündigung. Entscheidend ist aber, was daraus folgt und wie es gehen soll. Das hat am Donnerstag gefehlt.
Ist es angesichts der vielen rechtlichen und politischen Hürden überhaupt redlich, Abschiebungen nach Afghanistan in Aussicht zu stellen?
An Scholz' Stelle würde ich morgen ins Flugzeug steigen, nach Schweden fliegen und mich informieren, wie die das machen. Denn die Schweden haben im letzten Jahr mehrere Straftäter nach Afghanistan abgeschoben.
Ja, fünf.
Das sind mehrere, oder? Wir reden hier über schwere Straftäter.
Nach einer Ausarbeitung der Wissenschaftliche Dienste des Bundestages vom April wurden 2023 insgesamt 229 afghanische Staatsangehörige von Schweden abgeschoben, aber die meisten davon in andere europäische Länder.
Die Studie kenne ich.
Da steht leider nicht drin, wie die fünf Afghanen nach Afghanistan gekommen sind. Von Deutschland nach Kabul gibt es keine Flugverbindungen, Deutschland unterhält keine diplomatischen Beziehungen zu den Taliban, wie die meisten Staaten erkennt Deutschland das Taliban-Regime nicht an. Wie sollen da Abschiebungen durchgeführt werden?
Gerade deswegen auch mein Rat, sich in Schweden zu informieren. In der Unionsfraktion gehen wir der Frage auch gerade nach. Und offenkundig gibt es etwa mit Blick auf humanitäre Hilfen technische Kontakte zwischen der Bundesrepublik und Afghanistan.
Die über UN-Organisationen laufen.
Trotzdem gibt es Kanäle, über die man mit denen reden kann. Und wenn die Schweden so etwas können, warum sollte uns das nicht gelingen? Man muss es eben auch politisch wollen.
Die Ampel verhandelt gerade über den Haushalt das kommende Jahr, Anfang Juli soll der Bundestag einen ersten Entwurf bekommen. Allerdings setzt die Schuldenbremse enge Grenzen. Glauben Sie, dass die Koalition es noch einmal schafft, einen Haushalt aufzustellen?
Das ist das Gute an der Schuldenbremse: dass sie Schranken aufzeigt und Disziplin erzwingt. Denn das Grundgesetz erlaubt eine Ausnahme von der Schuldenbremse nur bei einem exogenen Schock, und den sehe ich im Moment nicht. Insofern müssen sie sich einigen. Oder die Koalition scheitert an den Haushaltsberatungen.
Was halten Sie für wahrscheinlicher?
Dass sie sich einigen. Vermutlich hoffen sie, dass sich die Wolken am konjunkturellen Himmel in den nächsten Monaten ein bisschen lichten und sie mit einem leichten Aufschwung andere Umfragewerte erreichen. Für Neuwahlen sind die aktuellen Werte dieser Parteien einfach zu schlecht.
Es gibt diese Idee, die Schuldenbremse zumindest für die Länder zu lockern. Wäre das eine Sache, die die CDU mitmachen würde?
Wir haben auf unserem Bundesparteitag einen klaren Beschluss gefasst, dass wir an der Schuldenbremse festhalten.
Gilt das auch für die Bundesländer?
Ja. Wenn wir das nicht täten, würden Sie mich in zwei Jahren wieder auf die Bürokratie ansprechen. Denn das Hauptproblem in Deutschland sind die verkrusteten Strukturen. Die Schuldenbremse kann uns dabei helfen, dieses Problem zu lösen, weil sie uns zu anderen Lösungen zwingt, als einfach immer mehr Schulden aufzunehmen. Mit mehr Schulden geht der Reformdruck zurück.
Kommende Woche wollen Sie den Habeck-Untersuchungsausschuss beschließen. Was genau werfen Sie dem Wirtschaftsminister eigentlich vor? Dass er als Minister beim Atomausstieg eine politische Entscheidung getroffen hat? Das ist doch sein Job.
Wir wollen prüfen, ob Unterlagen unterschlagen wurden, und wir wollen Klarheit, auf welcher Grundlage der Bundeswirtschaftsminister seine Entscheidung getroffen hat.
Letztlich argumentieren Sie, dass ein Weiterbetrieb der Kernkraftwerke möglich gewesen wäre. Aber das bestreitet Habeck ja nicht.
Das ist nicht der Kern unseres Anliegens. Wir glauben nicht, dass die Prüfung wirklich, wie 2022 von Habeck versprochen, ergebnisoffen und ideologiefrei war. Es gibt Berichte, dass bestimmte Informationen im Wirtschafts- und im Umweltministerium unterdrückt wurden. Wir wollen, dass die ganze Wahrheit ans Licht kommt.
Haben Ihnen die Akten nicht gereicht, die Sie von den Ministerien bisher bekommen haben?
Nein. Als Opposition sind wir in der Pflicht, die Vorgänge zu untersuchen, die in der Hochzeit der Energiekrise zum Ausstieg aus der Kernenergie geführt haben. Hier geht es nicht nur um unseren Industriestandort, sondern auch um die Glaubwürdigkeit von Politik.
Wolfgang Schäuble schreibt in seiner Biografie über den ersten Untersuchungsausschuss, den er als junger Abgeordneter in den 1970er-Jahren erlebte: "Erst im Laufe des Verfahrens erkannte ich den grundlegend politischen Charakter solcher Veranstaltungen, bei denen die Mehrheitsverhältnisse das formale Ausschussergebnis eigentlich in gewisser Weise vorwegnehmen, sodass es am Ende, wie meist im politischen Wettbewerb, eher um öffentliche Zustimmung geht." Geht es Ihnen darum, die Grünen im aufziehenden Wahlkampf vorzuführen?
Nein, es geht um unsere parlamentarische Kontrollfunktion.
CDU-Chef Friedrich Merz hat am Donnerstag in seiner Replik auf den Kanzler ein Gesprächsangebot formuliert. Im Januar hatte er noch gesagt, dass es für CDU und CSU mit der Ampel nichts mehr zu besprechen gebe. Woher der Sinneswandel?
Wir waren nie Fundamentalopposition, wir haben mehr als 100 Gesetzen der Ampel zugestimmt. Und zwar immer dann, wenn wir es für sinnvoll erachtet haben. Wenn wir jetzt erneut Gespräche anbieten, dann nur unter der Bedingung, dass es auch die anderen ernst meinen und keine Spielchen betreiben. Das gilt auch für den Bundeskanzler. In den vergangenen Tagen haben sich die Ereignisse so dramatisch zugespitzt, dass wir dringenden Handlungsbedarf sehen. Die Union steht jedenfalls bereit.
Mit Carsten Linnemann sprachen Volker Petersen und Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de